Maestra

Slapstick, Galgenhumor und Leibniz (nicht der Keks): Das MusikTheater an der Wien zeigt mit Candide eine Satire über die katastrophale Welt, in der wir leben und verschränkt Tragik mit Witz.

Revuetheater unter Galgen /// MTAW, Werner Kmetitsch (c)

Seit Dezember ist auf Netflix das nostalgische Biopic Maestro über den Menschen und Künstler Leonard Bernstein zu sehen. Ab 27. Jänner wird an der Volksoper Bernsteins berühmtestes Musical West Side Story aufgeführt (wir werden berichten). Seit dieser Woche spielt das MusikTheater an der Wien im Museumsquartier Candide. Die Produktionen von und über Bernstein erscheinen gerade in so hoher Frequenz, dass ich irritiert googeln musste, ob ich irgendein Jubiläum verpasst habe. Leonard „Lenny“ Bernstein, amerikanischer Komponist und Dirigent, 1918 geboren, 1990 gestorben, 2024 keinerlei runde Jahrestage.

Auch ohne Jubiläum hat das MusikTheater an der Wien gute Gründe, Candide auf den Spielplan zu setzen. Allein schon, weil mit Marin Alsop, der renommierten Chefdirigentin des ORF Radio Symphonie Orchesters, eine ehemalige Schülerin Bernsteins für die musikalische Leitung des Stücks engagiert werden konnte. Darüber hinaus besitzt Candide, indem es eine Vielzahl humanitärer Katastrophen verhandelt, teils beängstigende Aktualität.

Dauerkrisenmodus meets Slapstick

Die Handlung folgt der gleichnamigen Novelle von Voltaire aus dem Jahr 1759. Candide und Cunegonde wachsen in einem idyllischen westfälischen Schloss auf. Ihr Hauslehrer Pangloss erzieht sie nach der These von Leibniz, dass sie in der besten aller möglichen Welten leben. Dass diese Annahme falsch ist, (weshalb der Name Leibniz heute zurecht eher mit deliziösen Keksen in Verbindung gebracht wird…) müssen Candide und Cunegonde bald erkennen. Die bulgarische Armee überfällt mordend und plündernd das Schloss. Für die Protagonist*innen beginnt eine Odyssee, die von Lissabon über Paris, Cádiz, Buenos Aires, Paraguay und Surinam nach Venedig führt. Auf der Reise ereignen sich Seuchen, Erdbeben, willkürliche Tötungen durch die Inquisition, Bestechung, Prostitution, Mord, Geldgier, Betrug und ein Schiffsunglück.

Wer aus dieser Handlung einen deprimierten Abgesang auf die Welt folgert, liegt dennoch falsch. Bernstein hat viel mehr eine satirische Show komponiert, die Elemente von Musical, Operette und Oper vereint und in der Bezeichnung als Comic Operetta ihre ganz eigene Form findet. Witzige Dialoge sind neben tiefsinnige Arien und mitreißende Tanznummern gestellt. Aus der Verschränkung von Tragik und Witz resultiert eine slapstickhafte Farce mit Galgenhumor.

Showtreppe mit Abgründen

Dieses Zusammenspiel spiegelt sich im von Momme Hinrichs entworfenen Bühnenbild als Kombination von Showtreppe und klassischem Kulissentheater wider, das den schnellen Wechsel der vielen Handlungsorte erlaubt. Ursula Kudrna hat eine beeindruckende Anzahl von opulenten, karikaturistisch übersteigerten Kostümen entworfen. Die im Stück angelegte Gleichzeitigkeit von Show und Tragödie spitzt Regisseurin Lydia Steier weiter zu: unter Gehängten werden mitreißende Revuenummern getanzt und Cunegonde prostituiert sich nicht nur vor, sondern während ihrer populären Koloraturarie Glitter and be gay. Steier folgt auffallend genau dem Libretto und der Musik, sodass Liebhaber*innen der konservativen Ästhetik die Inszenierung wahrscheinlich begeistert als „werkgetreu“ bezeichnen werden. Dieses Regiekonzept funktioniert, weil der Stoff keine Modernisierung nötig hat, um seine Aktualität zu verdeutlichen. Die thematisierten Katastrophen sind in unserer Gegenwart offensichtlich.

Politik wird auch geboten /// MTAW, Werner Kmetitsch (c)

Das durchweg starke Ensemble bringt Künstler*innen unterschiedlicher Disziplinen auf der Bühne zusammen. Der Schauspieler Vincent Glander hält als schnöseliger Erzähler das Stück mit trockenem Humor zusammen. Sopranistin Nikola Hillebrand beeindruckt mit klaren Koloraturen als Cunegonde. Matthew Newlin schafft als Candide in dieser turbulenten Show mit sanfter Stimme sentimentale Momente. Für szenischen Drive sorgt das von Tabatha McFadyen choreografierte Tänzerensemble. Marin Alsop dirigiert das ORF Radio Symphonie Orchester so exzellent, dass das Publikum der Maestra bereits, als sie nach der Pause den Orchestergraben betritt, verdiente Bravo-Rufe spendet. Alsop versteht es, den Humor, den Musical-Groove sowie die berührenden Momente in Bernsteins facettenreicher Partitur zum Klingen zu bringen. Candide beweist, dass Tragik und Witz sich keineswegs ausschließen. Richtig kombiniert, erscheinen sie fast wie eine Notwendigkeit, um sich aktuellen Herausforderungen stellen zu können.

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