La Chimera: Zwischen Fabel und harter Realität

In ihrem jüngsten Spielfilm verzaubert uns Alice Rohrwacher mit einer zeitlosen Erzählung über den Umgang der Menschen mit Vergangenem und Verborgenem.

Josh O’Connor als Arthur /// (c) Stadtkino Filmverleih

Inmitten vermeintlicher Gegensätze wie Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Realität und Fabel, Vergangenem und Gegenwärtigem führt uns in diesem Film buchstäblich ein roter Faden durch mehrere Erdschichten. Im ländlichen Mittelitalien der 80er Jahre spürt der Brite Arthur (Josh O’Connor) durch eine nahezu übernatürliche Begabung alte etruskische Gräber auf. Begleitet wird er von einer bunten Bande italienischer Grabräuber (tombaroli), welche sich mit den archäologisch wertvollen Schätzen ihr Brot verdienen wollen. Rohrwacher stellt hier die sehr aktuelle und facettenreiche Frage nach Besitzanspruch. Ist das Plündern von alten Gräbern lediglich eine Form der Ausbeutung, oder trägt es zu einer Aufwertung der verborgenen Schätze bei, die doch gar nicht für die Augen der Lebenden bestimmt waren? Wie sehr betrifft das Vergangene unsere Gegenwart überhaupt?

Bereits in der Anfangsszene zeigt sich Arthur als wehmütig und distanziert, und vor allem als jemanden der auf der Suche ist. Im Laufe des Films wird es immer deutlicher, dass es die Sehnsucht nach der verstorbenen Beniamina (Yile Vianello) ist, die ihn zum Aufsuchen der Gräber antreibt. Die Grenzen zur Welt der Toten auszureizen scheint für Arthur viel verlockender zu sein als die Schätze an sich. Daran sind die übrigen tombaroli weitaus mehr interessiert.

Alices Wunderland

Wer 2018 Rohrwachers Lazzaro felice gesehen hat wird die faszinierende Mischung des theatralisch, verträumten und gleichzeitig irgendwie auch äußerst realitätsnahen Erzählstils in La chimera wiederfinden. Auch die karge, aber zugleich sehr verspielte Kulisse erinnert an ihren letzten Spielfilm. Die Realität der armen Verhältnisse am Land macht uns Rohrwacher auf ihre sehr eigene Art zugänglich. Ein, für ihre Filme charakteristisches, märchenhaftes Je-ne-sais-quoi lädt dazu ein mit den Figuren mit zu träumen und der Abbildung einer eigentlich sehr harten Realität ein Stück weit den Rücken zu kehren. Rohrwacher bringt Leichtigkeit und Zauber in eine reale Welt, ohne dabei jedoch dem Kitsch zu verfallen. Hinter der Kamera steht ihr dafür erneut die französische Kamerafrau Hélène Louvart zur Seite. Mit vertikalen 360° Kameraumdrehungen und langen horizontalen Schwenks wird das Realistische von ihr auch auf Bildebene verfremdet.

O’Connor mit Regisseurin Alice Rohrwacher /// (c) Stadtkino Filmverleih

Aspekte wie z.B. Arthurs sonderbare Gabe unterirdische Leerräume aufzuspüren oder die plötzlich sehr präsente Frage nach der Unantastbarkeit der Totenruhe, welche die Figur der Italia (Carol Duarte) einzubringen versucht, lassen die Grenzen zwischen Profanem und Übernatürlichem verschwimmen. Obwohl es nach und nach immer klarer wird, dass Beniamina tot - und nicht bloß abwesend - ist, bleibt sie dennoch den ganzen Film über in Arthurs sehnsüchtigem Blick so präsent und spürbar, als könne sie jeden Moment wiederauferstehen. Sie ist die „Chimäre“ auf die der Filmtitel anspielt – das Trugbild an dem Arthur eifrig festhält. Mythen wie die von Orpheus und Eurydike sowie das Sinnbild von Ariadnes Faden schwingen hier mit. Die schwindende Verbindung zu Beniamina wird in Rückblenden nämlich durch einen roten Wollfaden, der sich von ihrem Kleid löste und immer tiefer in die Erde führt, verbildlicht. Nicht zuletzt erinnert auch Arthur an den klassischen, von Göttern verfluchten, griechischen Helden, der sehnsüchtig und betrübt wie Odysseus seinen Weg zurück nach Ithaka sucht.

Entschleunigende Spannung

Natürlich impliziert der Alltag einer Gruppe von Grabräubern bereits einen gewissen Spannungsfaktor. Welche unterirdischen Räume öffnen sich als nächstes auf der Leinwand und welche Artefakte werden die tombaroli dort finden? Ohne dabei der Hektik eines Indiana Jones Films zu verfallen, schafft es Alice Rohrwacher die Spannung zu halten und nimmt sich dabei richtig viel Zeit für Details und Atmosphäre. Der Film hatte auf mich eine regelrecht entschleunigende Wirkung. Arthur hätte noch endlos lange mit seiner Wünschelrute am Waldrand entlang schreiten können und ich hätte trotzdem jeden einzelnen seiner behutsamen Schritte durch das Feld mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. La chimera leidet also keineswegs unter seinem bequemen Erzählrhythmus. Im Gegenteil. Die Sorgfalt, die in jeder Einstellung steckt, begünstigt sogar das Mitfiebern.

Nachdem ich mit La chimera (2023) nun auch den letzten Teil der Trilogie gesehen habe, in der sich Rohrwacher mit Lebensrealitäten auseinandersetzt, die heutzutage im Kino wenig Beachtung erhalten, kann ich mich zunehmend dazu bekennen, dass sie mit ihrem ganz sonderbaren Stil zweifellos eine meiner neuen Lieblingsfilmemacherinnen ist. Die anderen beiden Filme, Le meraviglie (2014) und Lazzaro felice (2018), waren diesen Monat im Admiralkino zu sehen. Letzterer wird am 21. Jänner noch ein letztes Mal gezeigt.

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