Mahler: Was will man mehr?

Die Wiener Philharmoniker unter Daniel Harding boten dem Konzerthauspublikum eine Wiedergabe vom Mahlers 1. Symphonie, die wenige Fragen offen ließ.

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Das Adagio aus Mahlers unvollendeter 10. Symphonie hebt ganz fein mit einem Solo der Bratschengruppe an. Wie ein silberner Faden spinnte sich die Melodie dahin. Schade, dass eine ältere Dame meinte, gerade jetzt noch zu ihrem Platz trippeln zu müssen und einem anderen Konzertbesucher etwas zu Boden fiel. Doch spätestens, als dann das restliche Orchester dazu einstieg, fiel auch von mir die letzte Anspannung ab und ich war einfach nur dankbar, dass auch die Wiener Philharmoniker (im Lockdown haben sie sich ja nicht unbedingt positiv ins Rampenlicht gedrängt) nun wieder im Konzertsaal zu hören sind und damit das tun, was sie am besten können - große Symphonien spielen.

Daniel Harding: angenehm unprätentiös

Bereits im ersten Satz des Symphoniefragments schaffte es Daniel Harding mit seiner angenehm unprätentiösen Art, die schönsten Farben des philharmonischen Klangspektrums hervorzubringen. Der seidig-weiche, klare Streicherklang, wie ihn dieses Orchester so gut beherrscht, verzauberte von Beginn an. Mit zurückhaltenden, aber klaren Gesten modellierte Harding feine dynamische Abstufungen vom forte zum subito piano und behielt auch im pianissimo die Balance im Orchesterklang, ohne an Spannung zu verlieren.

Die Soli wurden von Konzertmeisterin Albena Danailova, zweitem Geiger Christoph Koncz oder Klarinettisten Daniel Ottensamer, um nur ein paar zu nennen, souverän, bisweilen fast kammermusikalisch gelöst, ehe Harding uns auf einer ätherischen Klangwolke schwebend in die Pause entließ.

Nach der Pause das eigentliche Hauptwerk des Abends: Mahlers 1. Symphonie, in einem Kompositionsrausch in nur eineinhalb Monaten 1888 geschrieben. Aus einem fast Bruckner’schen Urnebel erheben sich hier schon im ersten Satz die für Mahler so typischen volksliedhaften Melodien und bieten den philharmonischen Bläsern gute Gelegenheit, sich zu profilieren. Der zweite Satz beginnt, als würde einer fröhlicher Kirtag anrollen, es grummelt in den Celli und Bässen, darüber verspielt die anderen Stimmen. Zu Beginn des Trios leistete sich das Horn im Ansatz eine leichte Intonationstrübung, eines der wenigen störenden Momente des Abends.

Daniel Harding ist ein Mann der klaren Gesten und weniger des Loslassens, weshalb er sich wohl mit etwas mehr Leichtigkeit dem Walzerselig-Volkstümlichen hingeben hätte können. Allerdings ist keine Stimmung in Mahlers Musik je so rein und unbeschwert und lauert stets hinter der Ecke die nächste Trübung, sodass diese stringente Lesart durchaus auch Sinn macht, um Übersicht und Zug im Mahler’schen Tongebilde nicht zu verlieren.

Changieren zwischen zirkushaften und trauernden Momenten

Dies als Stichwort gleich zum dritten Satz, der „feierlich und gemessen“ mit Pauke und einem einsamen Kontrabass gleichsam einem Trauerzug daherkommt, sich aber mit dem Einsteigen von immer mehr Instrumenten alsbald zu einer grotesken Clownerie wandelt. Dieses Changieren zwischen den zirkushaften und dem trauernden Momenten gelangen Harding durchwegs gut. Auch im gewaltigen Schlusssatz war dies seine Stärke. Ohne Partitur gestaltete er die unterschiedlichsten Stimmungen differenziert und brachte Ordnung ins Tonchaos. Denn dem Titel des Satzes „Stürmisch bewegt“ wurde das Orchester mehr als gerecht. Die Blechbläser schmetterten, die Streicher wirbelten darüber hinweg. Harding trieb das Orchester bis zum letzten Pult zum vollsten Einsatz an und führte es erhaben ins bombastische Finale.

Starker Applaus und Bravi aus dem Publikum. Sogar von Michael Schade gab es Standing Ovations. Verdient.

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