Martin Willibald Meisl: Entstigmatisierung, Autoaggression und der Weg zu sich selbst

Ein Gespräch mit Martin Willibald Meisl über Mainstream-Pornographie, filmische Darstellung von Sex, autoaggressives Verhalten und wie man Dankbarkeit in seiner Diagnose finden kann.

Martin Willibald Meisl (links) und Emelie Brendel (rechts) während des Interviews. /// © Luca Wellenzohn

Über Martin Willibald Meisl: Meisl ist ein in Wien lebender Künstler. Er arbeitet vor allem in einem autobiografischen Kontext, insbesondere mit innerpsychischen Filmen. Weiters geht es um Sehnsüchte, Sexualität, pornographische Bezüge und die Reflexion der eigenen Emotionen und deren Auslöser. Dabei verwendet er Elemente wie Tanz, Gesang und Schock. Derzeit studiert er Stage Design an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Triggerwarnung: Dieser Artikel behandelt Themen wie Spritzen, Selbstverletzung und "Pozzing" (bewusste Infektion mit einer Krankheit). Diese Inhalte können emotional belastend sein. Bitte lies nur weiter, wenn du dich bereit fühlst, mit diesen Themen umzugehen, oder hole dir Unterstützung, wenn du sie benötigst.

Bohema
: Arbeitest du selbst noch als Regisseur für Pornos?

Martin Willibald Meisl: Tatsächlich habe ich für einen Film Regie gemacht und auch selbst dargestellt. Ich finde Sex ist einfach ein wahnsinnig gutes Stilmittel, deswegen benutze ich es immer ganz gerne. Ich werde es auch in Zukunft wieder einbauen – aber halt ganz anders! Ich habe in letzter Zeit den Switch komplett umgelegt, wie ich sexuelles Begehren darstellen möchte, weil ich jetzt viel tiefer in Opern eingetaucht bin. In der Oper geht es viel um Sex, aber es ist immer mit einem Begehren dargestellt. Dieses Begehren finde ich wahnsinnig spannend und so viel schöner als zu sagen „da ist ein Penis, guck ihn dir an.“

Bohema: Kam daher auch die Idee für das Kurzfilmprojekt Sapere Aude für die AIDS-Hilfe Wien? Wie ist diese Kooperation zustande gekommen?

SAPERE AUDE, Kurzfilm für die Aids Hilfe Wien, 2024, Production / Writer / Director: Martin Willibald Meisl.

Martin: Das erste Mal habe ich Kontakt mit der AIDS-Hilfe Wien aufgenommen für meinen Film Autoaggression, wo der Sex sehr deutlich dargestellt war - wobei man auch sagen muss, dass Autoaggression eigentlich viel politischer ist, als dass es um Sex geht. Es geht um unsere Gesellschaft, was „Erste-Welt-Probleme“ sind, was Menschen, die in der Ersten Welt leben, aus dieser Freiheit machen. Was daraus resultiert, welche mentalen Probleme entstehen können. Nach dem Dreh von Autoaggression bin ich immer wieder am Weg zur Uni an dem Schaufenster vorbeigelaufen, das die AIDS-Hilfe am Bahnhof Meidling hat. Irgendwann habe ich dann die Andrea angeschrieben und gesagt: „Du, Andrea, das könnte aber viel besser ausschauen! Lass mich da mal was machen“. Sie fand die Idee gut, aber hat mir von Anfang an gesagt, dass sie überhaupt kein Budget dafür hätten. Ich meinte, dass das nichts mache und dass wir einen Film machen, der die Errungenschaften der AIDS-Hilfe Wien unterstreichen und darstellen soll, daneben anständige Fotos machen und das Schaufenster neu ausgestalten. Es fehlt immer noch ein Fernseher, wo das Video abgespielt wird, das will ich auch noch machen.

Sex als Tanz

Ballett finde ich immer so wahnsinnig ästhetisch und auch so erotisch, weil es da ja viel um Körperkraft und um das Eingespielte mit der anderen Person geht. Deswegen war Sex für mich bei SAPERE AUDE die Darstellung im Tanz. Mehr hat es auch nicht gebraucht, weil da wirklich so viel Energie zwischen zwei Personen herrschen kann. Ich habe es auch geliebt, dass der Kameramann mit diesen Balletttänzer*innenbewegungen mitgegangen ist, was eine wahnsinnige Tiefe bewirkt hat, als würde man einfach mit reingezogen werden. Liebe ich, um Gottes willen, ich habe Gänsehaut von meinen eigenen Erzählungen. (lacht)

Bohema: Wie hast du die Darsteller*innen für Sapere Aude gefunden?

Martin: Die Hauptdarstellerin Julia Petschinka ist tatsächlich eine Person gewesen, die eine Show von mir gesehen hat, die ich im Zuge einer Opernfilm-Premiere gemacht habe. Sie wollte mich damals einfach kennenlernen und das wurde dann ein wahnsinnig abstrakter Abend, sagen wir es so. Wir haben dann angefangen, uns immer mehr zu treffen und waren dann auf einem emotionalen Level, das ich eigentlich mit vielen Menschen erst nach Jahren erreiche. Wir waren so offen und tief miteinander, dass es für mich auch sehr, sehr klar war, von Anfang an: Die Hauptrolle muss eine Frau sein und es muss sie sein. Es gibt noch immer dieses wahnsinnige Schubladendenken, dass Aids oder HIV eine Erkrankung ist, die nur die queere Bevölkerung betrifft.

Ein wahnsinniger Irrglaube

So ist es aber schon lange nicht mehr, wenn man bedenkt, wie viele heterosexuelle Menschen sich mittlerweile anstecken, einfach weil sie glauben, dass sie das nicht betrifft, oder österreichische Hausärzt*innen, die dann nicht einmal darauf testen, wenn die Person heterosexuell ist, weil das Ganze so weit weg scheint. Das ist ein wahnsinniger Irrglaube.

Martin mit eine seiner Katzen (ab jetzt wollen wir immer Katzen bei Interviews anwesend haben!) /// © Luca Wellenzohn

Julia wird auch beim nächsten Film dabei sein, wo es auch wieder um sexuelle Darstellung im Zuge eines Tanzes geht - gar nicht um Nacktheit. Ich bin weg von dem Nacktheitsthema.

Bei den anderen Darsteller*innen wollte ich Personen aus der Queer Community haben, denn wenn jemand von HIV betroffen ist, wo wendet man sich hin? Man wendet sich immer an Menschen, die sich damit schon auskennen, die davon betroffen sind. Da ist die Queer Community offensichtlich eine gute Anlaufstelle. Deswegen wollte ich im Kurzfilm unbedingt den gesellschaftlichen Ausschluss darstellen, der einem bei einer HIV-Erkrankung sofort in den Kopf kommt. Ich habe zum Glück Diskriminierung sehr, sehr wenig erlebt, Gott sei Dank. Aber die Sachen, die ich erlebt habe, die waren schon unheimlich unangenehm. Wir müssen bildungstechnisch einfach wahnsinnig aufholen.

B: Was gab es bisher für Reaktionen auf deine Filme?  

M: In Bezug auf Autoaggression gab es sehr viele Reaktionen. Generell sind die Reaktionen häufig, dass die Leute das Kino verlassen und dann später wieder reinkommen, weil ich sehr viel damit gespielt habe, viel zuzumuten. Die Sexszenen sind irre unangenehm, ein falscher Kamerawinkel, ganz, ganz viele Sachen, die bewusst nicht stimmen – und das funktioniert. Dann wird auf einmal ewig viel geredet, dann hört alles auf und du hörst für eine Minute nichts, siehst für eine Minute nur einen schwarzen Bildschirm. In regelmäßigen Abständen kommt dieses Nichts und man fängt an, sich vor diesem Nichts zu fürchten, weil man ganz genau weiß, dass danach etwas Schlimmeres kommt. Ich ziele auch sehr darauf ab, dass man mit mir sympathisiert, dass man meinen Beweggrund versteht - aber dennoch bleibt es eine wahnsinnig dumme Handlung, die da dargestellt wird. Und so muss ich auch mit den unterschiedlichen Reaktionen umgehen können.

B: Glaubst du, dass Autoaggression eine stärkere Wirkung auf das Publikum hat, weil es deine autobiographische Geschichte darstellt?

M: Ja. Ich arbeite meistens im autobiografischen Kontext und mit Elementen, die vor allem in der Kindheit passiert sind. Ich hatte immer diesen Drang als Kind, mir Haare auszureißen, worauf der Titel unter anderem hindeutet. Und auch als Erwachsene*r findet man immer irgendwie Wege, sich selbst zu verletzen. Das fängt schon beim Nägelbeißen an, das ist auch autoaggressives Verhalten. Warum macht man das? Es geht immer alles Hand in Hand – auch Sex! Alles, was wir über Sex lernen, schon als Kind. Es fängt schon damit an, ob deine Eltern dir beibringen, dass Männer sich unter der Vorhaut waschen müssen. Wie wird das dem Kind beigebracht? Ist es dem Kind dann unangenehm? Ist es etwas, was das Kind als Erwachsener aufarbeiten muss, weil der Weg dahin einfach falsch war? Es geht immer wieder auf das Mentale zurück. Sex kann potenziell in jeder Beziehung ein Druckmittel werden. Ob man will, oder nicht. Wenn der oder die Partner*in jetzt gerade nicht will, wie reagiert der andere Person darauf?

B: Gab es einen Schlüsselmoment, nach dem du dir dachtest: „ich möchte meine Geschichte jetzt filmisch zeigen“?

M: Etwas darüber machen wollte ich schon immer. Ich werde teilweise von Menschen angeschrieben, die so derartig Angst vor einer Ansteckung haben, dass sie die Angst fast schon suchen, sich mit dieser Angst auseinandersetzen und richtig darauf abzielen, sich mit HIV zu infizieren. Über dieses Pozzing, diese bewusste Ansteckung, wird nicht gesprochen. Wo wendet man sich dann hin? Ich habe mich auch – mehr oder weniger – absichtlich angesteckt. Bei mir ging es um psychische Gewalt; den Eindruck, dass ich kein vollständiger Mensch bin, wenn ich HIV nicht habe oder dass ich nicht sexuell attraktiv bin für meinen damaligen Partner. Mein Ex-Partner hat das als Fetisch genutzt, er wollte immer, dass man darüber spricht, dass er HIV-positiv ist. Das hat ihn richtig geil gemacht. Irgendwann hat er mich auch dazu gezwungen, das beim Sex auszusprechen. Ich habe mich dabei immer wahnsinnig unwohl gefühlt, und mich gefragt, was bei ihm passiert ist, dass er das so sehr braucht und will. Als ich es dann verstanden habe, habe ich sehr schnell Schluss gemacht. Aber es bleibt halt immer etwas übrig davon. Wenn du ununterbrochen hörst, „ich finde dich sexuell nicht attraktiv, weil du kein HIV hast“, dann fängt man natürlich an, sich damit zu beschäftigen.

© Luca Wellenzohn

Deswegen war es mir schon immer wichtig, das Thema zu zeigen und darüber aufzuklären, weil mir diese Diskriminierung passiert ist und ich für diese Umstände eine Präsenz schaffe – für Menschen, die etwas Ähnliches erlebt haben.Ich glaube, dass Film für mich das Medium ist, weil du bei Film so präzise Menschen irgendwo hinlenken kannst; du kannst jede Aussage, die du machst, so gut unterstreichen.

B: Was ist demnach der Leitgedanke deiner Filme?

M: Entstigmatisierung. Menschen zu zeigen: „du brauchst keine Angst zu haben, nichts kann dir passieren“. Das Stigma muss unbedingt fallen, und zwar wirklich unbedingt, nicht nur in Bezug auf HIV, sondern gegenüber vielen Themen.

B: Was sind denn die größten Missverständnisse, denen du begegnet bist in Bezug auf HIV?

M: Dass Menschen teilweise nicht daran glauben und verunsichert sind, ob die verschriebenen Medikamente wirklich helfen, obwohl es wahnsinnig viele Studien dazu gibt. Ich glaube, das ist auch sehr menschlich, weil die HIV-Medikamente nicht vor allem schützen – man sollte trotzdem keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Generell gibt es ja auch noch andere Krankheiten - warum steigen die Syphilis-Zahlen wie irre? Man sollte wegkommen von dem Glauben, dass HIV-Medikamente die Wunderpille für alles sind, denn das stimmt so nicht. Ich habe damals auch lange gebraucht und war trotz Aufklärung sehr unsicher, als ich das erste Mal ungeschützten Sex mit einer HIV-positiven Person hatte. Ich bin danach wie irre testen gegangen und habe dann gemerkt, das nichts passiert. Es braucht Auseinandersetzung, um diesen Umgang zu lernen – und auf die Auseinandersetzung mit dem Thema spiele ich immer an.

B: Glaubst du, es hat sich über die Zeit etwas an der Aufklärung zu HIV getan?

M: Also von dem, was ich so mitbekomme – nein. Deswegen ist die Arbeit von der AIDS-Hilfe so wahnsinnig wichtig.

B: Gehst du regelmäßig testen?

M: Ja, ich muss es gesetzlich. Früher war das alle drei Monate, mittlerweile ist es sogar schon geändert auf alle sechs Monate, weil die Therapie so zuverlässig ist. Aber ja, ich renne alle drei Monate zum Testen. Bei einem normalen HIV-Test bin ich dann auch tatsächlich negativ – man muss einen speziellen Such-Test machen, um die Viruslast zu sehen. Ich teste mich generell immer auf alles, deshalb ist die Lebenserwartung bei HIV-positiven Menschen auch so unglaublich hoch – weil ununterbrochen auf alles getestet wird. Sollte ich irgendwas anderes kriegen, sieht man das sofort.  

B: Würdest du sagen, dass es bestimmte Klischees über HIV in Filmen gibt?

Viele Baustellen in Mainstream-Pornografie

M: Ja, deswegen wollte ich unbedingt diesen AIDS-Hilfe-Film machen. Es ist immer das Gleiche. Es ist immer ein schwules Schicksal. Ich meine, Forrest Gump war es nicht. Aber den Film zähle ich auch nicht, ich mag den Film nicht. Aber es ist trotzdem fast immer der schwule Mann, der HIV hat und damit umgehen muss, eine Lösung finden muss.

B: Was für Probleme siehst du in der Mainstream-Pornografie?

M: In der Mainstream-Pornografie sehe ich viele, viele Baustellen. Erstens: Wie viel Geld bekommen Darsteller*innen tatsächlich ausgezahlt, und für was? Diesen finanziellen Aspekt finde ich sehr verwerflich. Ich habe Autoregression völlig unkommentiert damit angefangen, dass ich mir eine Spritze in den Penis stecke und mir dieses Mittel reinspritze, mit welchem die meisten Pornodarsteller*innen arbeiten. Das ist eine Spritze, durch welche du drei Stunden lang durchgehend eine Ereketion hast. Aber, wenn es über drei Stunden ist, solltest du unbedingt ins Krankenhaus fahren, weil dann Blut abgepumpt werden muss, weil der Schwellkörper sonst kaputt geht.

Das ist eine Utopie, die einem da vorgespielt wird. Das ist irre. Was lerne ich als Konsument*in daraus? Dass ich nicht Mann genug bin, dass es bei mir nicht so lange hält… das vermittelt ein falsches Bild von der Realität. Ab wann fängt man an, Pornografie zu konsumieren? Wie alt war ich? 13, 14. Und alles, was ich gelernt habe, war, dass ich dieser absolut standfeste Ficker sein muss, der zwei, drei Stunden lang durchgehend vögelt. Es ist alles so fernab von der Realität. Irgendwann tut es halt weh, irgendwann ist man wund, das ist ja auch für Frauen so. Es ist ja nicht nur die Standfestigkeit, das fängt ja auch schon damit an, wie vollbusig eine Frau sein soll, wie sich eine Frau verhalten soll, wie eine Frau stöhnen soll; muss ein Mann stöhnen und wenn ja, wie stöhnt er, was sagt ein Mann beim Sex, ist ein Mann dominant beim Sex, wie weit geht diese Dominanz, wo fangen Handgreiflichkeiten an und wo hören sie wieder auf? Diese Vermittlung von Sexualität finde ich falsch, verwerflich, wirklich schade und blöd. 

Deswegen bin ich ein großer Freund von Amateurpornografie und deswegen wollte ich auch, dass der ganze Film sehr amateurhaft ist. Auch zeige ich den penetrativen Sex insgesamt 30 Sekunden und der Hauptbestandteil von dem Ganzen sind Kuscheln, Küssen und oraler Sex.

B: Das beantwortet eigentlich schon fast meine nächste Frage: was für dich einen guten, ethischen Porno ausmacht.

M: Ich kann dir vor allem sagen, was keinen guten Porno für mich ausmacht. Alles, was ich an Sex sehe, wo nicht geküsst wird oder wo man nicht auf einen engeren Körperkontakt zielt, ist für mich einfach nur ein Abbild einer Wegwerfgesellschaft, in der wir wahnsinnig gut verankert sind - wir werfen uns alle gegenseitig weg. Ich merke es ja auch bei mir selbst: Ich denke “einmal Sex mit der Person und das hat sich erledigt, weil ich ihn unbedingt auf meiner Liste haben will, weil die und die Person einfach so und so ausschaut, aber für mehr reicht es mir dann halt auch nicht. Das ist falsch, denn jeder Sexualkontakt lebt sehr lange in einem weiter. Das sehe ich auch heute noch so und deswegen habe ich jetzt einfach mittlerweile viel, viel weniger Sex und habe nach neuen Wege gesucht, weil ich halt einfach immer mehr darüber reflektiert habe, dass ich das eigentlich nicht weiter unterstützen will.

Kommerzpornografie unterstützt scheinheilige Männlichkeit und wenn man es sich auch geopolitisch anschaut, geht es ja auch immer nur darum, wie männlich man sein kann, wie viele Frauen man abkriegt - das finde ich alles falsch und verwerflich. Sex ist so viel mehr und ich werde Sex auf jeden Fall wieder einbauen, aber für mich fängt es wirklich bei Begehren an, Küssen und Zärtlichkeit. Selbst wenn du in einem Sadomaso-Verhältnis bist, dann hast du trotzdem eine Leidenschaft für die/den Anderen und das merke ich in einer kommerziellen, erstellten Fantasie von Dominanz nicht.

Martin Willibald Meisl, fotografiert von Luca Wellenzohn ©

B: Welche Projekte stehen für dich als nächstes an?

M: Mein nächster Film wird mein Abschlussfilm an der Angewandten. Ich mache eine Faust-Überschreibung, weil ich der Meinung bin, dass Goethe keine Frauenfiguren schreiben konnte. Ich finde es total verwerflich, wie er Gretchen und die Mutter darstellt und wenn er über Faust schreibt tobt er sich aus, wie super er sei.

Gretchen-Makeover

Alle Frauen in diesem Stück werden derartig reduziert dargestellt, es ist immer alles im Schatten vom Patriarchat und dann heißt es immer “ja, aber denk an die Zeiten, in denen er gelebt hat” - Schwachsinn! Wenn man sich Sophokles anschaut, was ja Jahrhunderte vorher war, hat der es auch geschafft. Wenn man sich anschaut, was Antigone für eine wahnsinnig emotionale Tiefe hat, fernab von damaligen Gesellschaftsbildern und welche Stellung Frauen damals hatten. Antigone ist ein gelungener, wundervoller Charakter – bei Goethe ist einfach zu wenig davon da. Deswegen schreiben wir schreiben das Ganze um, nehmen Gretchen und beschäftigen uns nur mit ihr. Ihren Bruder habe ich ganz rausgeschnitten, brauchen wir nicht, er ist redundant für die ganze Geschichte. Mir geht es vielmehr darum, was sie mit ihrer Mutter eigentlich macht, die fehlende Vaterfigur, wie heftig die Mutter das Patriarchat weiterführt trotz Fernbleiben des Vaters und was sie ihrer Tochter im Endeffekt alles antut, womit sie umgehen muss, ob sie es will oder nicht. Was soll sie auch machen, sie ist völlig gefangen.

Wir spielen damit, was es mit ihr macht, dass von allen Seiten wirklich nur gefordert wird, dass sie nur ausgenutzt wird. Ich gehe auch ein bisschen davon weg, dass sie den Verstand verliert. Ich glaube eigentlich, dass sie ganz klar bei Verstand ist und dass sie sehr deutlich kapiert, was eigentlich passiert. Ich dränge sie ein bisschen in eine andere psychologische Richtung rein. Wie ich das Ganze ausgestalte, das wird man nächstes Jahr im Jänner dann sehen können. Da wird auch wieder das Sexthema drin sein, was ich wieder mit einem Tanz darstelle. Es wird eine Sequenz geben, wo zwar Nacktheit vorkommt, aber es soll keinen erotischen Aspekt bekommen; Faust hat ja von Gretchen immer nur genommen, und wenn man nur nimmt von einer Person, dann ergibt das für mich kein emotionales Verhältnis. Deswegen soll diese Szene auch kein Gefühl von Erotik auslösen dürfen.

B: Also ein Gretchen-Makeover?

M: Yess. Sie hat es echt verdient, sie hat es wirklich verdient. Sie wäre eigentlich so ein wundervoller Charakter, es hätte so ein großartiges Buch sein können!

Man ist nicht allein

B: Gibt es bestimmte Künstler*innen, die dich inspiriert haben?

M: Also meine Lieblingskünstlerin ist Björk, alles was ich die letzten Jahre gemacht habe ist sehr von ihr inspiriert,  beispielsweise Masken von einer Maskenbildnerin, die Broschen und Schuhe für Björk hergestellt hat. Ich gehe immer mehr in diese Richtung des Versteckens und was man noch von der richtigen Person, die eigentlich dahinter ist, sieht und warum es dieses Verstecken, neu erschaffen und schmücken braucht, was man da erschafft. Für meine Filme ist eine der Hauptinspirationen Lars von Trier, leider, und ja, ich bin eigentlich überhaupt kein Freund davon, das Werk vom Künstler zu trennen, aber Melancholia hat mich damals einfach so abgeholt, das ist noch immer mein Lieblingsfilm sondergleichen, Dance in the Dark ist natürlich auch ein überragendes Werk von ihm gewesen. (Kontext: Die Sängerin Björk beschuldigte Lars von Trier 2017 im Zuge von #MeToo, sie während der Dreharbeiten zum Film „Dancer In The Dark“ (1999) mehrfach sexuell belästigt zu haben. Quelle: Musikexpress).

Ebenso Filme von Ulrich Seidl, weil Seidl es verstanden hat, was es bedeutet, eine Person einfach mal sein zu lassen. Nicht zu interagieren mit der Person, einfach die Person zu sehen, in ihrem ganz normalen Alltag, das finde ich schön. Es gibt bei ihm viele Momente von Einsamkeit und Stille, in denen einfach nichts gesprochen wird und wo du nur Küchenmaschinengeräusche hörst, oder wie eine Person anfängt, mit sich selbst zu reden. Was macht das mit den Zuschauer*innen, wenn man eine andere Person sieht, wie sie mit sich redet? Ich habe es auch oft bei Filmen von Seidl, dass ich Angst habe vor den Stellen, wenn auf einmal kein Dialog mehr kommt, wo man dann ganz genau weiß “okay, man ist jetzt dieser Person ausgesetzt, man kann jetzt nichts mehr unternehmen, man darf dieser Person jetzt nur noch dabei zuschauen, wie sie sich selbt zerfleischt” - und das machen wir alle, wir alle zerstören uns selbst mit unseren Gedanken immer und immer wieder, aber wir bauen uns ja auch immer wieder neu auf.  Ich glaube, das hat viel mit Menschsein zu tun… ich rede wahnsinnig viel, wie viel Kaffee habe ich getrunken? (lacht)

B: Was würdest du jemandem sagen, der gerade erst seine HIV-Diagnose bekommen hat?

M: Ich hatte ein sehr aufgeklärtes Umfeld, deshalb kann ich nicht für alle sprechen. Ich habe meine Mutter angerufen und gesagt “Hey Mama, ich habe HIV”. Sie meinte nur “okay, passt, wann kriegst du deine Medikamente?” Da war ich überrascht, wie gut meine Mutter sich auskennt. Aber ich glaube, dass sie sich aufgrund meiner Queerness schon im Vorfeld damit beschäftigt hat.

Ich denke, es ist sehr wichtig, dass man bei Erhalt der Diagnose versteht, dass man nicht alleine ist. Dass man wirklich rausgeht und versucht, mit anderen Leuten zu reden, den Dialog mit betroffenen Personen zu suchen und zu verstehen, wie normal jede*r von uns weiterleben darf. Wie privilegiert wir zu dem Thema eigentlich sind, dass wir auf diese Art und Weise damit umgehen dürfen. Ich betone das dürfen, weil das Recht darauf noch nie so derartig eingeschränkt war wie jetzt. Wir müssen aufpassen, dass wir uns dieses Recht beibehalten, uns dafür einsetzen. Früher oder später findet man Dankbarkeit in der Diagnose. So war es zumindest bei mir - weil es einem im Menschsein wahnsinnig weit bringt.

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