Opera goes wild
Nachdem Wien in Film, Theater und der Bildenden Kunst thematisch schon längst im 21. Jahrhundert angekommen ist, trifft es mit der Inszenierung von Tschick nun auch endlich die Oper. Genauer gesagt die Wiener Staatsoper.
Warum die konservativen Strukturen der klassischen Oper öfter mal auf Unverständnis in unserer Generation treffen, muss ich ja hier nicht weiter erläutern (Stichwort: Sexismus und Rassismus). Trotzdem gibt es immer wieder Inszenierungen, die mit Rollenbildern und Stereotypen arbeiten. Nicht nur, dass junge Musikbegeisterte da schnell das Interesse am Zuschauen verlieren. Viel schlimmer noch: Jetzt stellt euch mal vor, ihr müsst als Sänger*in in eine dieser sexistischen Rollen schlüpfen. Wie ist das für junge, liberale Menschen tragbar? Richtig, gar nicht. Und deswegen musste sich die Wiener Staatsoper auch langsam aber sicher etwas überlegen, wie man verhindert, dass das Publikum, im wahrsten Sinne des Wortes, nach und nach wegstirbt.
Eine Antwort auf dieses Problem bildet die Wiener Staatsoper jung!: keep it shiny, keep it real. So heißt es auf ihrem Instagram-Kanal. Die Zielgruppe steckt im Namen: Junge Menschen, die sich für Opernrepertoire interessieren. Bei der Premiere am Sonntag konnte man unschwer sehen: Das Konzept war ein Treffer ins Schwarze. Immerhin lag der Altersdurchschnitt bei ca. 30 Jahren im Publikum, auf der Bühne vielleicht sogar unter 18.
Tschick war nur optisch nicht so schick
Inszeniert wurde eine Road Opera für Jugendliche ab 13 Jahren. Das Libretto ist von Tina Hartmann, basierend auf dem erfolgreichen Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf, der 2010 in Deutschland veröffentlicht wurde. Für die österreichische Erstaufführung vergangenen Sonntag führte Krysztina Winkel Regie. Zwei Teenager, die nicht ungleicher hätte sein können, finden sich als Außenseiterpaar zusammen. Sie sind die einzigen beiden Jungs, die nicht auf eine Party eingeladen werden. Es startet eine Reise geprägt von Ausbrüchen aus dem Leben der Eltern, ersten Liebeserfahrungen und echter Freundschaft. Felix Pacher tritt in die Rolle des gemobbten Tschick, der Unternehmersohn Maik wird von Constantin Müller verkörpert. Marlene Janschütz spielt die interessante und abenteuerlustige Isa und begeistert mit ihrem extravaganten Stimmeinsatz.
Das Bühnenbild stellt den Eisernen Vorhang dar und mehrere Metallgestelle sind das Sinnbild für einen geklauten Lada. Einige Bilder haben richtig cool gewirkt, der Vorhang wurde auch mal als Zelt umfunktioniert. Eine Live-Kamera wurde als digitales Medium ergänzend eingesetzt, wodurch die Party-Szene richtigen Insta-Story-Vibe bekam. Aber im Großen und Ganzen hatte das Bühnenbild eine recht schwache Wirkung. Es war einfach zu wenig und zu konfus, um die Zuschauer*innen überall abzuholen. Umso ausdrucksstärker waren die Musik und der Einsatz des Chors. Ich lehne mich mal ein bisschen aus dem Fenster und bezeichne die Musik Ludwig Vollmers als eine modern komponierte Oper, die Stil-Elemente aus Musical und Film mit modernen Spieltechniken und klassischen Opern-Elementen kombiniert. Die Arien und Rezitative wurden von einem Chor umrandet, der für den Stereo-Effekt mal an der Seite, mal hinter dem Publikum stand. Er diente dabei klassisch als erzählendes Element, aber vor allem auch als Stimmungserzeuger. So wurden Beispielsweiße durch schrille Einwürfe, einschlägige Rhythmen und feine Cluster Spannungen und Sphären erzeugt, die sich perfekt um die Handlung legten.
Die Figur Isa hat neben anspruchsvollen Koloraturen auch punkartige Elemente zu singen, laut Vollmers eigener Aussage hat er sich dabei an Nina Hagens Gesangsstil orientiert. Man braucht definitiv etwas Zeit, um in die Musik reinzukommen. Aber wenn man sich darauf einlässt, wirken die Klänge direkt und ehrlich aufs Gemüt – zuletzt auch weil das Orchester unter der Leitung von Johannes Mertl wirklich grandios spielt. Die jungen Solist*innen sind im Publikum etwas leise rübergekommen, was allerdings in Anbetracht des Altersschnitts auf der Bühne zu vernachlässigen ist.
Da es mir genau aus der Seele spricht, hier ein Zitat vom Komponisten Ludwig Vollmer:
„Die Aufführung wird […] fast ausschließlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesungen. Das ist schon etwas sehr Besonderes. Im Vordergrund stehen die jungen Sänger*innen. Die singen und spielen sich die Seele aus dem Leib. Sie sind genau im Alter der Zielgruppe, die wir ansprechen wollen, die Generation, die wir mit dem Stück begeistern wollen, einerseits als Publikum, aber vor allem auch als Darstellende.“
Genau das. Und es hat funktioniert!
Endlich mit gutem Gewissen Oper schauen
Obwohl Drogen, Wichser und Arschloch – also das volle Programm – auf der Bühne vertreten sind, wirkt das überhaupt nicht cringe, um mal im Tschick-Wortschatz zu bleiben. Es ist schon irgendwie ironisch, dass mich als junge Zuschauerin solche Schimpfworte weniger triggern, als die Libretti der sonstigen Opern im Haus. Ganz im Gegenteil, es ist sogar richtig authentisch. Mein persönliches Highlight war die Richterszene: Maiks reiche Eltern versuchen erfolglos, den Russen Tschick anzuklagen – Maik und Tschick nehmen sich gegenseitig in Schutz. Der Richter erkennt die Notlage der beiden Jungs: Hier geht’s um Leben und Tod. Er spricht sich für ein besseres Leben für Tschick und ein freieres Leben für Maik aus. Da schreit der Gerechtigkeitssinn im Publikum Hurra, und mein Gewissen auch.
Als die jungen Künstler*innen sich den verdienten tosenden Schlussapplaus einholen, war ich nicht die Einzige, die Stolz empfand: Auch Regisseurin Krysztina Winkel hatte Freudentränen in den Augen und ein breites Grinsen im Gesicht. Ein Freund, den ich nach der Vorstellung zufällig getroffen hatte, sprach ein schönes Fazit: „Ich konnte mich gut mit den Figuren identifizieren“. Wow, das geht runter wie Öl, oder Frau Winkel? Weiter so, Wiener Staatsoper jung!