Performativer Protest als sozialer Ungehorsam
Warum erregen bestimmte Protestformen mehr Aufsehen als andere? Und was hat das mit Michel aus Lönneberga zu tun? Vom Ärger über die Letzte Generation.
Wie kaum eine andere Protestaktion zieht die Letzte Generation momentan die Aufmerksamkeit auf sich. Einige sind begeistert davon, andere wütend. Bisher haben aber sie aber nichts zerstört - bis auf die Lebensmittel, die auf den Glasscheiben vor den Kunstwerken zermatschten. Es gibt diese Distanzscheibe, weil man schon vor dem Versagen des Klimagipfels wusste, dass Kunst Emotionen auslösen kann und diesen standhalten muss. Dass eine Reihe junger Menschen sich diese Distanz zu eigen macht, um den Fokus auf etwas zu legen, um das es sich zu kämpfen lohnt, hätte wohl in diesem Ausmaß niemand erwartet.
Liest man sich durch die Reaktionen der Erwachsenen, der Autofahrenden, der Kuratierenden, der Politikschaffenden im Netz, dann hat es den Anschein, als beschwerten sich die Leute vor allem darüber, dass die Letzte Generation unausgesprochene Grenzen der Netiquette überschreitet. Kartoffelbrei auf Monet? Blockierte Straßen und Stau durch Fremdeinwirkung junger Märtyrer*innen? So etwas macht man doch nicht! Der Soziologe Emile Durkheim nennt die faktische Existenz solcher unausgesprochenen Regeln “soziale Tatbestände”. Da gibt es allgemeine Wertvorstellungen von “Gut” und “Böse” im weitesten Sinne und es fällt auf, wenn sich Individuen dagegenstellen.
Die Letzte Generation instrumentalisiert spielerisch diese normierten Wertvorstellungen, drängt sich der Öffentlichkeit auf und sorgt für Alarmstufe Rot in Theatern, Museen, auf Straßen und (im Idealfall) auch in der Politik. Vor allem aber nehmen sie Privaträume ein. Über Medien, Zeitungen und Radio verbreitet sich ihre Agenda und niemand bleibt vom Thema Klimakrise verschont. Ob das wirksam ist? Diese Frage wurde schon oft in der Geschichte aller Protestbewegungen gestellt. Und ihre Antwort hängt vom Ausgangspunkt der Betrachtenden ab.
Öffentliche Inszenierung vs. Kontext
Polizei und Staat sprechen von Straftaten und Gesetzesbrüchen – ja klar, wenn ein Flughafen lahmgelegt wird, kann man dafür schon mal rechtlich verfolgt werden. Bei all dem Spektakel, den Verhaftungen und den Blockaden vergisst man aber manchmal, dass die Forderungen der Letzten Generation an sich sehr überschaubar sind. Man fragt sich dennoch, ob dieses ganze Drama womöglich den Fokus verschleiert, ob die Protestaktionen der Sache gerecht werden. Die Verantwortung des Verschleierns liegt aber nicht bei den Protestierenden, so wie es ihnen oft vorgeworfen wird. Im Spiegel heißt es zum Beispiel, die Letzte Generation taufe sich selbst als „Hüter*innen der einzigen Wahrheit“ und verlange den Gehorsam der gesamten Gesellschaft (2022). Das ist, finde ich, Quatsch. So eine überzogene Einordnung kommt von Menschen, die sich nicht empathisch in die Lage der Protestierenden hineinversetzen (wollen). Die öffentliche Inszenierung der Letzten Generation, maßgeblich geschürt durch den bürokratischen Umgang mit ihnen, macht es einem aber zugegebenermaßen nicht gerade leicht, mitzufühlen.
Dabei streben die Protestierenden nach etwas Größerem als Martyrium: Nämlich dem Ende leerer Versprechen, nach konkreten Taten und dem ungeheuchelten Willen, etwas für den Erhalt der Zukunft zu tun. Ist das so falsch?
Genauer wollen sie das 9-Euro-Ticket, einen gelosten Weltklimarat, den Fracking-Stopp und ein Geschwindigkeitslimit auf Autobahnen. Warum muss sich eine Gruppe an engagierten, besorgten und zurecht verzweifelten Menschen so omnipräsent aufdrängen, wenn ihre Ziele doch relativ übersichtlich sind? Klar ist es nervig, wenn man zu spät zur Arbeit kommt, weil die Straßen mal wieder gesperrt sind. Klar ist es schlecht, dass der Krankenwagen nicht durchkam.
Aber wenn man seinen Blick für einen kurzen Moment vom medialen Framing befreit, erkennt man: Die Menschen, die da protestieren, sind Menschen, die ihre Zukunft im Argen sehen und teilweise Schule, Studium und Arbeit schmeißen, um sich für den Erhalt unserer Lebenswelt einzusetzen. Die machen das nur bedingt freiwillig, ihre Motivation ist nicht der Müßiggang, der ihnen oft vorgeworfen wird, sondern die schiere Panik vor dem Untergang unserer Welt. Das klingt dramatisch, das klingt apokalyptisch und ja, ich selbst will das auch nicht hören, aber es ist nun mal unsere Realität. Wir schlittern geradewegs am 1,5 Grad Ziel vorbei, die Wasserknappheit hat Europa bereits erreicht, der Konsumkapitalismus drängt immer mehr Menschen in existenzbedrohliche Notlagen - und das nicht nur im globalen Süden, sondern auch hier, bei uns im globalen Norden.
Performativer Protest
Nicht ohne Grund beschmieren sie also Dior-Geschäfte, versammeln sich an Kreuzungen, an Flughäfen, in Museen und an Universitäten. Die Aktionen haben eine symbolische Tragkraft, so lästig sie auch sein mögen, und sind Bestandteil eines performativen Wandels. Performativität meint dabei nicht etwa eine bestimmte Performance von Protest oder Solidarität, wie sie Pia Krolik bei netzbasierten “Protestaktionen” beobachtet, etwa dem #blackouttuesday oder als während Corona geklatscht wurde. “Performativ” bedeutet im Prinzip die Verwendung symbolischer und sprachlicher Elemente, um sich Gehör in einem*r Rezipient*in zu verschaffen.
Bei allem, was performativ ist, handelt es sich um gewisse Formen von Macht, die entweder produziert oder angefochten werden. Performative Akte benötigen dabei, um überhaupt wirkend zu sein, die Anerkennung sozialer Normen und Gefüge (oder “Autoritäten”, wie der Soziologe Pierre Bourdieu sie interessanterweise nennt). Proteste im performativen Sinne finden insofern also statt, wenn a) ein Bruch mit sozialen oder symbolischen Autoritäten stattfindet und b) die Umsetzung dieses Bruchs mit sprachlichen, symbolischen oder formellen Elementen umgesetzt wird.
„Fridays For Future“ erregte beispielsweise in erster Linie so viel Aufmerksamkeit, nicht weil sich junge Menschen fürs Klima einsetzten, sondern weil sie die Schule schwänzten. Die Proteste gegen Racial Profiling und Polizeigewalt in Nordamerika nahmen erst ihren internationalen Aufschwung, als ein unbewaffneter Mann öffentlich ermordet wurde, und das Prozedere laut der Verfassung eben nicht als faktischer Normbruch klassifiziert wurde (ausschlaggebend war natürlich auch die Geschwindigkeit der medialen Verbreitung des Videos und die internationale Solidarisierung). Die Aktionen der Letzten Generation bewegen den europäischen Raum nicht unbedingt aufgrund des unermüdlichen Forderns nach angemessener Klimapolitik, sondern weil man sich wegen ihnen viel aufregt.
Die Unterwanderung der Alltagswelten tausender Bürger*innen, sei es im Verkehr oder bei einer Abendvorstellung im Theater, ist also das performative Mittel, mit dem die Letzte Generation die Bühne der Gesellschaft besetzt.
Die Protestierenden nutzen bewusst das Spektakel als Spiel, um Aufmerksamkeit zu erregen und einen Platz in der Medienlandschaft einzunehmen. Der Journalist Constantin van Lijnden meint dazu, dass es konkrete Bahnen in der deutschen Demokratie gäbe, in denen man Protest stattfinden lassen könne. Die Letzte Generation bewege sich wegen ihrer Normbrüche außerhalb dieser Bahnen. Sprecher*innen der Letzten Generation konstatieren dabei aber genau das: Die vorgesehenen Bahnen des zivilen Ungehorsams reichen nicht aus, um sich Gehör zu verschaffen. Es gibt schon einen Grund, warum man in konservativen Großstädten den Hass der Mehrheit auf sich zieht – es ist scheinbar der einzige Weg, um gesehen zu werden. Viele, glaubt man den Worten der LG-Sprecherin Carola Rochel, haben selbst keine Lust, sich bei Wind und Wetter auf die Straße zu kleben. Es besteht kein Interesse daran, sich von Zivilpersonen bespucken zu lassen, von Mitt-40ern als Terrorist*innen deklariert zu werden und Anwält*innen suchen zu müssen, die ihre Strafverfolgungsprozesse begleiten.
Öffentlicher Druck als geeignetes Mittel?
Spannend im Zeitalter der Medien, des Gesehenwerdens und der öffentlich zugänglich und gestaltbaren Selbst- und Fremdidentifikation ist nun, dass solch performative Proteste in mannigfaltiger Auffassung kontextualisiert und inszeniert werden können. Tatsächlich geht es der Letzten Generation, entgegen medialer Berichterstattung, nicht darum, sich als Märtyrer*innen oder als einzige Rettung der Gesellschaft darzustellen. In der Medienlandschaft lässt sich jedoch eine besondere Art der Inszenierung der Protestierenden beobachten. Extremisierende Zuschreibungen wie “Klima-RAF” und “Klimaterroristen” und herablassende Bezeichnungen wie “Klimakleber” repräsentieren, wie die Letzte Generation wahrgenommen wird: Jung, anstrengend und nicht ernstzunehmend.
Diese Inszenierung ist jedoch eine zynische, denn sie dient vor allem der Rechtfertigung der eigenen stillschweigenden Zustimmung und der gemütlichen Einstellung, dass man ja doch nichts tun könne. Die Letzte Generation tut etwas, und deshalb regt dieser Aktivismus auf.
Es geht bei performativen Protesten dieser Art darum, den öffentlichen Druck hochzuschrauben. Denn: Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wissenschaftler*innen beobachten Massensterben, Artenrückgang, Hungersnöte und steigende Meeresspiegel. Die Protestierenden stellen sich bewusst gegen die soziale Netiquette und Autoritäten und das ist letztlich, was die Massen so aufregt. Die Letzte Generation kann man nicht weg-ignorieren, kopfschüttelnd tolerieren oder, im Rahmen eines zweistündigen Demo-Marsches sogar unterstützen (Mitlaufen bedarf keiner tatsächlichen Handlungsmotivation, ist deshalb angenehmer und weniger bedrohlich). Die Performativität und die Omnipräsenz der Letzten Generation engen den Raum ein, in dem politische Partizipation als demokratisches Teilhabemittel hingenommen werden kann und öffnet sämtliche Türen und Fenster, die den eisigen Wind der Realität hereinlassen, welcher einem quasi ins Gesicht schreit, dass es jetzt an der Zeit ist, endlich was zu tun.
Michel vs. Leviathan
Die Interessen der Protestierenden und die der Bundesregierung mögen dabei auf dem Papier dieselben sein (der Erhalt der Zukunft), sind in ihrer Umsetzung aber generationenspezifisch geprägt. Dies spiegelt sich auch im Schlagabtausch zwischen Regierung und Letzter Generation wider. Im Prinzip haben wir es oberflächlich betrachtet mit den frechen, ausgefuchsten Streichen von Michel aus Lönneberga zu tun (Kartoffeln im Hof des deutschen Bundeskanzleramts anbauen, um auf Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen? Das könnte auch von Michel kommen), die den großen alten weißen Leviathan, der am liebsten noch alles über Fax regeln würde, provozieren sollen.
Manche würden sagen, die Letzte Generation erpresse die Öffentlichkeit mit der Art ihres Protests und ihrer Forderungen. “Erpressung” finde ich persönlich etwas doll, zumindest ist es aber Nötigung. Schließlich sind da (junge) Leute, die die Mehrheit zu etwas drängen wollen. Dass es sich dabei aber um etwas handelt, das alle Menschen interessiert (Ich wiederhole hier nochmal: der Erhalt unserer Lebenswelt), wird nur bedingt wahrgenommen. Die Letzte Generation scheut sich dennoch nicht davor, die Grenzen des Sozialen zu überschreiten, um unser aller Sache Gehör zu verschaffen. Der performative Charakter und die Symbolik der Letzten Generation zeigen Hierarchien auf, die unsere Welt und ihre Zukunft maßgeblich prägen.
Ihr ziviler Ungehorsam entspringt dem Fundament unserer Gesellschaft; der Sprache und der Transformativität sozialer Gefüge.
Ob zielführend oder nicht, es tritt deutlich hervor, was die jüngeren Generationen im Vergleich zur staatsführenden alten Generation bereit sind zu tun, nämlich: Handeln.