Selbstreflexion im Gefängnis oder Erlösung durch Freiheit

Tätowierte Sträflinge werfen sich für Modemagazine in Pose. Ein Spiegel unserer Gesellschaft? - Kirill Serebrennikovs Parsifal in der Staatsoper.

Jonas Kaufmann als Parsifal. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Jonas Kaufmann als Parsifal. Foto: (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

In einem extremst realistischen Bühnenbild lässt Regisseur Kirill Serebrennikov Träume und Erinnerungen sichtbar werden. Wir befinden uns in einem Gefängnis, in dem unter den Gefangenen eine brutale Hierarchie herrscht. Die drei gleichzeitig ablaufenden Ebenen (Video, Bühne, Vorderbühne) wirken live im Opernhaus sicherlich nochmal anders. Das beinahe permanent mitlaufende Video zeigt einen Film, den der Regisseur im Vorfeld in Russland gedreht hat. Serebrennikov lässt den ersten und zweiten Akt als Parsifals Erinnerung an seine Jugend spielen, daher wird der „damalige Parsifal“ von einem Schauspieler verkörpert. Die Auseinandersetzung mit sich selbst steht hier im Fokus. Im Laufe des Abends vermischen sich die Metaebenen, der ältere Parsifal schreitet auch zunehmend mehr in die Szenen ein und führt am Ende als Erlösung die Gefangenen aus dem Gefängnis hinaus in die Freiheit. Da der regimekritische Serebrennikov in Russland juristisch verfolgt und nicht ins Ausland gelassen wird (immerhin darf er nach drei Jahren endlich wieder seine Wohnung verlassen), konnte er nicht live in Wien inszenieren, per Video hat es aber funktioniert.

Statt Schwan wird Mithäftling in der Gefängnisdusche getötet

Die Inszenierung liebt das Detail. Wenn sich Kundry, hier eine Journalistin mit Erlaubnis, im Gefängnis fotografieren zu dürfen, eine Zigarette ansteckt, ihr Gefangene von hinter den Gittern heraus Feuer geben und sie ihnen als Dank Zigaretten schenkt, lässt es einen nicht kalt. Ebenso der erste Auftritt des jungen Parsifal, in dem er im Original einen weißen Schwan erschießt und für seine Empathielosigkeit bestraft wird. Bei Serebrennikov schneidet Parsifal einem Mithäftling, der sich ihm sexuell in der Dusche nähert, die Kehle durch. Untermalt mit einer Musik, deren Schönheit und Reinheit gar nicht zu beschreiben ist, wird mich diese Szene in meinen Träumen verfolgen.

Ein schöner Körper für Kundry: Elīna Garanča verführt Parsifal. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Ein schöner Körper für Kundry: Elīna Garanča verführt Parsifal. Foto: (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Der zweite Aufzug in der Redaktion des Modemagazins „Schloss“, gestaltet sich vor allem verführerisch. Da haben wir das Fotoshooting der Blumenmädchen mit einem zwar keuschen und unbefangenen, aber sehr ansehnlichen jungen Parsifal, der sicher nicht nur wegen seines schönen Körpers von Kundry langsam, aber ordentlich verführt wird. Mit welcher Intensität die SängerInnen ihre Rollen spielten, war in der Tat verblüffend und absolut fesselnd.

Starensemble und Orchester in Bestform

Musikalisch fühlte man sich wirklich wie im siebten Himmel. Philippe Jordan, Generalmusikdirektor der Staatsoper, führte die unglaublich präzise spielenden Wiener Philharmoniker zu traumhaften, teilweise fast kammermusikalisch anmutenden Wagner-Klängen. Die von der Staatsoper zusammengestellte Besetzung kann man sich nicht besser vorstellen. Jonas Kaufmann war als Parsifal in stimmlicher Bestform.

Parsifal im Doppelpack: Jonas Kaufmann (r.) und Nikolay Sidorenko. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Parsifal im Doppelpack: Jonas Kaufmann (r.) und Nikolay Sidorenko. Foto: (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Ein Ereignis für sich ist Georg Zeppenfeld als Gurnemanz. Seiner samtig-schönen Bass-Stimme könnte man den ganzen Tag lang zuhören. Wolfgang Koch ist sowieso ein absoluter Hit! Singt traumhaft schön und tritt, vollkommen glaubhaft, genervt in sein Büro, schenkt sich Whiskey ein und schaut irgendwelche Pornos auf dem Computer. Eine riesige Überraschung ist Ludovic Téziers Amfortas. Seine „Gralsenthüllung“ gehörte zu den packendsten Momenten der Aufführung. Psychisch zerstört fügt er sich selbst nachts Wunden zu, wird dabei vom jungen Parsifal beobachtet und von Gurnemanz gerettet.

Elīna Garančas Wagner-Debüt hat eingeschlagen wie eine Bombe

Elīna Garanča gab als Kundry ihr mit Spannung erwartetes Wagner-Debüt und es hat eingeschlagen wie eine Bombe! Sie legt die Partie ganz anders an als ihre Kolleginnen vom Wagner-Fach, wesentlich leichter, noch nicht hochdramatisch, aber ungemein intensiv und ausdrucksstark. Außerdem hat man die Garanča selten so gut spielen gesehen. Mit ganzem Körpereinsatz und sehr differenzierter Mimik war sie das szenische Highlight der Premiere. Der „damalige Parsifal“ wurde von Nikolay Sidorenko sehr beeindruckend und einfühlsam, gleichzeitig frech und naiv-unbeholfen gespielt.

Elīna Garanča brilliert schauspielerisch. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Elīna Garanča brilliert schauspielerisch. Foto: (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn.

Wenn die Eindrücke dieser Neuproduktion einem schon als TV-Aufzeichnung so nahe gehen, wie muss dann erst die Wirkung im Opernhaus sein? Hoffentlich erfahren wir das bald, bis dahin kann man Parsifal auf ARTE Concert 90 Tage lang streamen.

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