Porträt eines jungen Mannes in der Arena
Albert Serra dreht mit Tardes de Soledad erstmals einen Dokumentarfilm. Sein Porträt eines peruanischen Stierkampfstars ist schwer zu ertragen und offenbart einiges über den Volkssport.
© Filmgarten
Vor einigen Tagen wurde ich Zeuge eines faszinierenden Schauspiels, als ich – vermutlich gedankenlos – durch den Feed einer Social-Media-App scrollte. Ein Wiener Kino hatte einen Werbebeitrag geschaltet, der auf den Kinostart von Albert Serras Stierkampf-Dokumentarfilm Tardes de Soledad aufmerksam macht. So weit, so gut, die zielsicheren Targeting-Algorithmen ist man inzwischen gewohnt. Überrascht hat mich allerdings die Menge an Aufmerksamkeit, die diesem Beitrag entgegengebracht wurde: Mehrere Dutzend Kommentare? Über einen Dokumentarfilm eines Regisseurs, der nun wirklich nicht für seine Massentauglichkeit bekannt ist? Unglaublich – das Kino lebt!
Wer in den letzten Jahren einmal in Facebook-Kommentarspalten unterwegs war, ahnt bereits: Natürlich findet dort keine Auseinandersetzung mit dem Film statt, keine Vorfreude über die Anwesenheit Serras bei der Kinostartpremiere in Wien und auch sonst nichts, was man unter so einem Kino-Werbebeitrag erwarten würde. Stattdessen reihenweise wütende Kommentare: Jemand kündigt an, nie mehr das werbende Kino zu besuchen, jemand anders empfiehlt allen Kinobesuchern einen Besuch beim Psychiater, pervers und befremdlich sei es, so einen Film zu zeigen. Dazwischen vereinzelte Stierkampffans, deren Anerkennung für die Tradition und den im Film porträtierten Starmatador in der Masse untergehen. Um den eigentlichen Film scheint es den wenigsten zu gehen, gesehen hat ihn offensichtlich niemand – ah doch! Ein Lichtblick! Eine Kommentatorin wirft ein, was ich mir schon die ganze Zeit denke: Schaut den Film doch erstmal, der beobachte das ganze eigentlich nur und sei obendrein ziemlich entlarvend.
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Beobachtet wird in Albert Serras Dokumentardebüt der peruanische Torero Andrés Roca Rey, der – glaubt man verschiedensten Zeitungsberichten – beste und sicherlich beliebteste Stierkämpfer der Gegenwart. Hunderttausende folgen ihm auf Instagram, er füllt die größten spanischen Arenen. Serra zeigt in Tardes de Soledad mehrere ‚corridas‘, zu sehen ist Roca Rey ausschließlich in der Arena, in der Limousine vor und nach dem Kampf und in seinem Zimmer im Luxushotel. Die Kamera beobachtet ihn dabei, ja, aber sie ist keinesfalls distanziert, sondern immer ganz nah dran. Während den Kämpfen könnte man leicht vergessen, dass tausende auf den Publikumsrängen zusehen, so sehr konzentriert sich Serra auf seinen Protagonisten.
Es leuchtet schnell ein, warum sich gerade Serra, der gerne mit Sonnenbrille und Hut auftritt, eine gewisse Rockstar-Attitüde an den Tag legt und für den die Kunst, die Bilder über allem stehen, für dieses brutale Schauspiel interessiert. Alles an dieser Tradition scheint nur darauf zu warten, in Bilder gefasst zu werden. Das beginnt bei den schillernden Kostümen der Toreros, die man eher in einem Ballsaal als bei einer Sportveranstaltung erwarten würde – bestens fügt sich Roca Rey in seinem Anzug etwa in die Kulisse seines vergoldeten Hotelzimmers ein. Rote und gelbe Farben beherrschen auch die Holzbauten und den Sand der Arena, die Schutzumhänge der Pferde und natürlich die ‚muleta‘, das Tuch des Stierkämpfers. Das Blut des Stiers, das in einem streng geregelten rituellen Ablauf durch verschiedene Werkzeuge und Kämpfer vergossen wird, fügt sich bestens in diese Farbkomposition ein.
Und hier muss man den aufgebrachten Facebook-Kommentaren dann doch zu einem gewissen Grad recht geben: Viele der Sätze, die in anderen Kritiken und der Vermarktung des Films fallen, irritieren. Immer wieder ist da von einer Ambivalenz die Rede, von der Schönheit, die untrennbar mit der Brutalität des Stierkampfs einhergehe, und davon, dass dieser Film nicht urteile, nicht für oder gegen die ‚corrida‘ sei, sondern einfach beobachte. Serra selbst hat einen nicht geringen Anteil an diesen Bemerkungen, immer wieder betont er in Interviews, dass er privat ungefähr in der Mitte der – schließlich auch in Spanien intensiv geführten – Stierkampfdebatte stehe, die ihn als Filmemacher aber ohnehin nicht interessiere.
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Stattdessen ist er fasziniert von dem Kampf Mann gegen Stier, von dem Tanz, den der Torero vollführt, um den Stier zu ermüden, von der Präzision und der Art, wie der Kämpfer sein Gesicht verzerrt. Von der Kunst eben, von den Bildern. Und der Einsamkeit, die dem Film seinen Titel gibt. Zum Glück offenbart Tardes de Soledad aber auch, dass Roca Rey so einsam gar nicht ist. Der Ablauf der ‚corrida‘ erfordert es, dass ihm einige Kollegen zur Seite stehen, die in den ersten Runden des Kampfes den Stier für den finalen Kampf vorbereiten. Assistenten stehen hinter der Barrikade, um den Star mit Erfrischungsgetränken und anderen Hilfsmitteln zu versorgen. Sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, sind sie jederzeit bereit, in den Kampf einzugreifen und Roca Rey vor dem Schlimmsten zu bewahren. Einsam ist vor allem der Stier, dessen Schicksal von Anfang an feststeht, und der in seinem Aufbäumen gegen das Unausweichliche in einigen Frontaleinstellungen plötzlich menschlicher als sein Gegenüber erscheint.
Unvermeidlich legt der Film die ideologischen Grundpfeiler offen, auf denen der Stierkampf zu stehen scheint. Glücklicherweise fängt Serra die Kämpfe nicht nur in Bildern ein, sondern stattet die Toreros auch mit Mikrofonen aus. Die Assistenten und weniger angesehenen Vorkämpfer (‚picadores‘ und ‚banderilleros‘) agieren in Anwesenheit von Roca Rey ununterbrochen als Hypemen. In ihren Anfeuerungen – es geht hauptsächlich darum, wer die größten „cojones“ hat, und auch ganz allgemein darum, wer der größte ist – offenbart sich ein faszinierender Blick in die Männlichkeitvorstellungen, die offenbar eng mit dem Stierkampf verknüpft zu sein scheinen. Wie brüchig dieser Machismo ist, wird besonders dann deutlich, wenn die Fassade Risse bekommt. Erstaunlich oft unterlaufen Roca Rey Fehler, die dem Stier Möglichkeiten bieten zurückzuschlagen. Auch das wird Serra nicht müde zu betonen: Dem Peruaner habe der Film daher überhaupt nicht gefallen. Vielleicht ein Zeichen für die entlarvenden Qualitäten des Films, wenn man denn bereit ist, ihn sich anzusehen.
In den ehrlichsten Momenten sitzen Roca Reys Kollegen bereits im Auto und warten auf ihn, nachdem er im Kampf verletzt wurde. Sie erzählen sich von ihren Sorgen, kurz blitzt etwas Menschlichkeit auf, die kurz darauf wieder der Anbetung des Matadors weichen muss. Als dieser sich im Krankenhauskittel dazu setzt und selbst Zweifel äußert – er habe Glück gehabt –, fallen die Mitstreiter zuverlässig in ihre vorgeschriebene Rolle zurück und überschütten den quasigöttlichen Star mit Lob und Bewunderung.