Circlusion und die Neue Ordnung der Dinge

Vulva, Anus, Mund und Hand werden aktiv, sie circluden. Vor acht Jahren bringt die politische Autorin Bini Adamczak eine Wortneuschöpfung in Umlauf, Circlusion.

Mutter oder Schraube? Wer fickt hier wen? /// © Alexandra Timofeeva

Es geht also – wieder einmal – um Sex. Doch die Auseinandersetzung lohnt sich, denn leise und fast unbemerkt hat sich eine terminologische Revolution vollzogen. Die Sprache und Bilder, die wir damit verbinden, scheinen sich verändert zu haben. Lassen Sie uns also mit einer Frage beginnen: Welches Bild taucht als Erstes in unserem Kopf auf, wenn wir an Sex denken?

Everything in the world is about sex except sex. Sex is about power.
— Oscar Wilde

Wahrscheinlich haben wir alle eine recht ähnliche Vorstellung, also in der Grobfassung. Wahrscheinlich stellen wir uns zwei Körper vor – einen aktiven und einen passiven, einen eindringenden und einen empfangenden. Diese Sichtweise ist tief in unserer Kultur verankert und prägt nicht nur unsere Vorstellungen von Sexualität, sondern auch viele andere Lebensbereiche. Trotz wachsender Offenheit und größerer Gleichberechtigung in den Gesprächen über Sex bleibt oft unbemerkt, wie stark unser Denken immer noch von einer männlich-heteronormativen Perspektive beeinflusst ist. Der eindringende Körper gilt als aktiv, der empfangende – wie nennen wir das eigentlich? – bleibt der passive Part.

Kurz gesagt, wir betrachten Sex aus der Perspektive der Penetration und vernachlässigen den ‚empfangenden‘ Körper und das übrigens unabhängig vom biologischen Geschlecht. Damit folgen wir aber einer Vorstellung, die eine hierarchische Beziehung schafft, noch bevor die ersten Blicke des Begehrens ausgetauscht wurden und die sich dann in der Folge des besseren Kennenlernens nur weiter festschreibt, so als würden dann die letzten Zweifel ausgeräumt. Was dort scheinbar intim verhandelt wird und unterschwellige Gültigkeit, sogar Natürlichkeit vorsäuselt, ist eine Vorstellung von Sex, die unsere sozialen, politischen und intimen Räume durchzieht und unsere Vorstellung von Geschlecht und Begehren prägt.

Es geht also, wie Oscar Wilde sagt, mehr als nur um Sex. Und auch Michel Foucault – neben vielen anderen – sieht das so. Der französische Philosoph und Sozialtheoretiker ist aufgrund seiner Untersuchungen zu Macht, Wissensproduktion und zu gesellschaftlichen Institutionen wie Gefängnissen, Kliniken und Schulen bekannt geworden. Er gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts und hat insbesondere durch seine Analysen von Machtstrukturen und Diskursen die Geistes- und Sozialwissenschaften nachhaltig geprägt. Sex und Macht sind ihm zufolge untrennbar miteinander verwoben. Foucault beschreibt Sexualität als einen zentralen Ort, an dem Machttechniken subtil wirken, indem sie unsere Körper disziplinieren und Normen schaffen, die bestimmen, was als ‚richtig‘ oder ‚natürlich‘ gilt. In patriarchalen Strukturen wird Sexualität oft durch die Linse der Kontrolle betrachtet: Wer aktiv ist, wer passiv, wer dominiert und wer unterworfen wird. Die Logik der Penetration spiegelt dieses Machtgefälle wider, in dem das Eindringen als Symbol für Stärke und Kontrolle gilt, während das Empfangen eher Schwäche und Passivität repräsentiert, das starke und das schwache Geschlecht, das mächtige und das ohnmächtige, das unterwerfende und das unterworfene. Wenn wir ‚Sex‘ sagen, meinen wir eigentlich Penetration und genau hier liegt das Problem.

Einsame Schraube /// © Alexandra Timofeeva

Adamczak bringt es auf den Punkt, wenn sie die Aussage fuck the system nicht mit einer angenehmen Zerstörung oder einer Art erfüllender Erfahrung in Verbindung setzt, sondern mit Gewalt. Und dann wird sie noch klarer und sogar ein bisschen poetisch. Penetration erzeugt eroberungsbezogene Bilder. Bilder von Schwertern und Scheiden, Bohrern und Löchern, Steckern und Steckdosen. Das, was daran problematisch ist, ist nicht die Penetration als Akt an sich, sondern, dass die Penetration die alleinige Hauptrolle spielt und nicht nur das heteronormative Imaginäre, sondern sogar das queere Imaginäre regiert. Sie erfindet einen Begriff – vielleicht auch eine Zauberformel – der eine neue Vorstellung schafft, Circlusion. Das heißt aber nicht, dass, nur wenn wir diese Logik umkehren und statt fuck the system, circlude the system schreien, unser Sexualleben plötzlich erfüllter und unsere Welt besser ist. Circlusion kann ebenso gewaltvolle Formen annehmen. Vielmehr geht es um die Ergänzung, um Empowerment für beide Seiten, um Sex auf Augenhöhe, um eine Erweiterung unserer sexuellen Erfahrungen und unserer Vorstelllungen. Es geht nicht darum, die Penetration abzuschaffen, sie zu diffamieren, gar zu kastrieren, es geht darum, sie zu ergänzen, neue Bilder zu schaffen so wie Schraube und Mutter, Yin und Yang, Ebbe und Flut.

Meine erste Begegnung mit dem Begriff Circlusion war ein Narnja-Erlebnis, es war, wie durch einen Schrank zu klettern und dahinter eine neue Welt zu entdecken. Eine Welt, die die ganze Zeit nur wenige Schritte entfernt existierte, so nah dran und so logisch, vielleicht sogar gewöhnlich und trotzdem unerreichbar. Circlusion ist ein Wort, das ich so schnell verstand, als hätte ich es eigentlich schon immer gekannt, als sei es irgendwo in mir angelegt gewesen und ich hätte es nur kurz vergessen. Es hat eine so erstaunliche Wirkung, es empowert, revolutioniert (friedlich), es lässt hoffen auf eine Welt, in der die Machtverhältnisse ausbalanciert sind, auf ein Ablösen von Mainstreampornos und Penetrationslogik und auf eine gewaltfreie Vorstellung von Sex.

Oh Mutter /// © Alexandra Timofeeva

Die Macht der Sprache zeigt Circlusion auf atemberaubende Weise, denn im Grunde beschreibt es das Gegenteil von Penetration, es beschreibt den Prozess des Ummantelns, des Umgebens, des Umstülpens. Es bedeutet, etwas – einen Ring oder eine Hülse – über etwas anderes zu schieben, wie zum Beispiel über eine Brustwarze oder einen Schaft. Der Ring und die Hülse werden dabei zu den aktiven Elementen. Es ist eigentlich, so Adamczak, eine ganz alltägliche Erfahrung, so wie eben das Papier den Kaugummi ummantelt oder eine Hand den Schalthebel. Mehr steckt eigentlich nicht dahinter. Also eigentlich nur ein ganz kleines Wort, aber mit sehr viel Power. Circlusion hebt die Binarität von Aktivität und Passivität auf und verschiebt unsere Perspektive.

Statt von einer Vorstellung auszugehen, bei der Körperteile erobert, in Besitz genommen werden, geht es Adamczak um eine Betrachtung der Körperteile, die stimuliert werden. Es geht um die Körperteile, dank deren wir spüren, die ein Gefühl erzeugen, das angenehm ist, auf beiden Seiten. Damit beendet sie die Machtspiele wie durch eine Zauberformel. Es ist, als würde das bloße Aussprechen von Circlusion schlafende Körper wecken. Circlusion schafft eine Neue Ordnung der Dinge, sortiert Macht neu, hoffentlich gleichmäßig, das Potenzial dazu ist jedenfalls da. 

Alle Zweifelnden, und auch die Überzeugten, alle Skeptischen und Neugierig-Gewordenen, abwechselnd, hauptsächlich oder immer Penetrierenden und Circludenden kann ich nur dazu einladen, den Begriff mal auszuprobieren, ihn beim nächsten Dinner durchzukonjugieren: ich circlude, du circludest, er/sie/es circludet, wir circluden, sie circluden, ihr circludet. Die Reaktionen sind zahlreich, wie spannend. Verblüfft sein werden sie aber alle, mit Lächeln auf den Lippen, Falten auf der Stirn, fassungslos geöffneten Mündern oder klatschenden Händen, Langeweile kommt bestimmt nicht auf, so viel kann ich versprechen.

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