The Visitor: Das Politische im Expliziten

Slash ‘24: The Visitor von Bruce LaBruce vereint explizite Pornografie und politische Kritik, bleibt jedoch auch eine hate-it or love-it Erfahrung.

© LaBruce / A/POLITICAL

Der Erotikfilm lebt von dem Nicht-gezeigten. Ab einem gewissen Punkt in der sich stetig steigernden Sexszene wendet sich die Kamera ab und verweigert dem Publikum den Blick auf den Akt selbst. Das Begehren bleibt erhalten, indem es nicht erfüllt wird. Es ist diese Leerstelle, die die Erotik konstituiert. Der Erotikfilm als Negation bzw. Mangelwesen, welcher erst durch die Limitation geboren wird, steht dem pornografischen Film bzw. dem Porno gegenüber. Der Porno ist explizit. Ihm geht es nicht um ein Phantasma, das aufrechterhalten werden muss, sondern um maximale Sichtbarkeit. Eine gängige Definition des Pornos – abgesehen von der redundanten: „Ich erkenne es (Pornografie), wenn ich es sehe“ – ist die Darstellung nicht simulierter Sexszenen, die zur sexuellen Stimulation der ZuschauerInnen führen soll und in erster Linie der Triebbefriedigung dient. Diese verkürzte, den Porno auf seine biologistischen Wurzeln degradierende Definition hat dazu geführt, dass das Genre im kulturellen Diskurs lange Zeit nicht beachtet wurde. Dabei ließe sich das Genre mit seinem Fokus auf Körperlichkeit, Performativität, Subversion und Ekstase produktiv diskutieren.

Ein Held des kanadischen Homocore

Die Filmografie des Regisseurs Bruce LaBruce – ein Mitbegründer des kanadischen Homocore, einer aus dem Punk entstandenen Bewegung, die sich unter anderem gegen die homophoben Tendenzen dieser Strömung gestellt hat – ist durchzogen von der filmischen Auseinandersetzung mit der Pornografie. Die Themen seiner Filme – Nazi-Fetischisierung, Inzest, Gerontophilie, Zombie-Sex – spielen nicht nur mit den gesellschaftlichen Tabus, sondern konfrontieren das Publikum direkt mit der Zerstörung der Definitionsgrenzen. Seine Filme sprechen sich gegen eine Unterscheidung zwischen Porno und Kinofilm aus. Ihm geht es nicht um eine Gratwanderung an der Schwelle zwischen den beiden Darstellungsformen, sondern um die Verwischung dieser elitären Grenzziehung. Die einstige Subversion der Pornografie wird explizit ausgestellt, weshalb sich das Publikum auch direkt dazu positionieren muss. Der Erfolg LaBruces bleibt sicherlich einer im Nischenbereich, auch wenn er ein häufiger Gast bei bekannten Filmfestivals ist. Sein neuester Film The Visitor feierte seine Premiere auf den Filmfestspielen von Venedig.

Der Film beginnt mit einem Koffer, der an das Ufer der Themse angeschwemmt wird und aus dem non-binary Performance-Artist Bishop Black entsteigt. Im Voice-over ist die River-of-blood-Rede des britischen Politikers Enoch Powell zu hören, die dermaßen dystopisch in ihrem Rassismus ist, dass ZuschauerInnen, die die Rede nicht kennen, sie für fiktiv halten müssen. Die Ankunft im Koffer, verbunden mit der Tatsache, dass Bishop Black schwarz ist und die alles übertönende Stimme Powells zu hören ist, setzt sofort ein klares, beinahe überdeutliches Zeichen, welche Themen der Film behandeln will. Das Spiel mit dem Pornogenre Interracial, welches unter anderem auf die sexuelle Beziehung bzw. Anziehung der SklavenhalterInnen zu den Sklaven zurückgeht, wird durch das plakative Symbol des Koffers um die Ebene der Migration erweitert. Der Tabubruch wird erst über eine sich gegenseitig konstituierende Symbiose von Angst und Begehren zur Subversion bzw. Transgression. Es ist die Angst der SklavenhalterInnen vor dem Begehren der SklavInnen, die dieses Begehren auslöst und umgekehrt. Die Kamera macht auch keinen Hehl daraus, dass ihr Blick auf den hypersexualisierten schwarzen Körper – muskulös, überdurchschnittlich großer Penis und kräftiger Po – ein fetischisierender ist. Bevor die eigentliche Handlung beginnt, ergötzt sie sich in mehreren Einstellungen an Bishop Blacks Körper.

© LaBruce / A/POLITICAL

Based on Pasolini

The Visitor ist eine freie Adaption von Teorema von Pier Paolo Pasolini, der sich in seinen Werken ebenfalls mit dem Obszönen auseinandergesetzt hat. Während in Pasolinis Film die Arbeiterklasse zum Fetischobjekt der Bourgeoisie wird, arbeitet LaBruce intersektionaler und verbindet queere, postkoloniale und klassistische Diskursebenen miteinander. Das Explizite der Pornografie wird auch in der Symbolik übernommen. Bishop Black kommt bei einer wohlhabenden Familie aus der Oberschicht unter, der er gleich zu Beginn seinen Urin, seinen Kot und sein Blut zum Essen vorsetzt. Die Ausbeutung des kolonisierten Körpers wird plakativ in Szene gesetzt und dann wieder in die wechselseitige Beziehung von Angst/Ekel und Begehren überführt, indem die Familie beim genüsslichen Verschlingen der ‚Mahlzeiten‘ gezeigt wird. Die anfängliche Umkehrung des unterdrückenden postkolonialen Blicks, indem Bishop Black die britische Oberschicht wortwörtlich ‚Scheiße fressen‘ lässt, verwandelt sich in tatsächliches Begehren; schließlich ist Koprophilie – oder ‚Kaviarspiele‘, wie es im Fetisch-Jargon heißt – eine Sexpraktik.

Im zweiten Akt, der den Hauptteil des Films ausmacht, verführt Bishop Black alle Mitglieder der Familie sowie die/den Hausangestellte/n. Dabei bricht der Film mit allen gesellschaftlichen und filmischen Normen, indem er nicht nur explizit nicht simulierten queeren Sex zeigt, sondern auch Inzest und BDSM-Praktiken darstellt. Die sich ständig wiederholenden Muster parallelisieren die Internetpornografie, die aufgrund der ständigen Zugänglichkeit kommodifiziert ist und sich durch die Wiederholung des Altbekannten auszeichnet. Die Stimulation der Bilder verläuft sich, und die jeweiligen Sexszenen werden ermüdend. Das Zuviel des Pornos, der im sich ständig überbietenden Exzess – einer kapitalistischen Wettbewerbslogik folgend – gefangen ist, wird in The Visitor einem akzelerationistischen Impetus folgend bis zum Äußersten und darüber hinaus geführt, bis jegliche gesellschaftlich konstruierte Grenze in sich zusammenbricht.

Während der Sexszenen flimmern, in neonbunten Buchstaben, „pornografisierte“ Versionen bekannter Slogans über die Leinwand. Dass dabei nicht nur ein Affekt provoziert werden soll, zeigt sich an den eindeutig politischen bzw. politisierenden Slogans wie „eat out the rich“, „open legs, open borders“ oder „keep calm and fuck on“. Wenn der konservative Slogan „family values“ während der Inzestszene über die Leinwand flackert, stellt der Film die mögliche Transgression der Pornografie dar, die, wie jedes andere Filmgenre auch, stets eine politische Ideologie transportiert. Die beinahe frech plakative Ausstellung der Symbolik ist der Versuch, die Subversion der Subversion zu erreichen, bei dem auf jegliche Subtilität verzichtet wird und alles offen ausgestellt ist. The Visitor versucht, der kapitalistischen Kommodifizierung des Pornos und dem damit einhergehenden Verlust der Transgression eine absolute Offenheit entgegenzusetzen, die die absolute Sichtbarkeit des Pornos parallelisiert. Dabei ist der Film keine Hommage, Parodie oder Dekonstruktion des Genres, sondern der Versuch, eine Grenzziehung zu vermeiden. „Porn pour porn“, sozusagen, aus dem dann das Politische sui generis entsteht.

Letztendlich präsentiert The Visitor eine komplexe Verschmelzung von sexueller Explizitheit und politischem Kommentar, die das Publikum herausfordert und zum Nachdenken über gesellschaftliche Normen, Machtverhältnisse und die Rolle der Pornografie in der modernen Kultur anregt. Ob dieses Experiment gelungen ist oder letztendlich, wie so oft bei der Subversion, lediglich den Status Quo und dessen heteronormative Konventionen bestätigt, muss jede/r für sich entscheiden.



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