Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Der Rosa Winkel. Die Geschichte der Namenlosen des Theater Nesterval lädt ein, mit allen Sinnen in die Schrecken der nationalsozialistischen Zeit in Wien einzutauchen und nie mehr zu vergessen

(c) Alexandra Thompson

Es tauchen noch immer neue, ungelesene und unbearbeitete Geschichten der unzähligen Betroffenen des nationalsozialistischen Regimes auf – selbst 70 Jahre nach Kriegsende. Jede von ihnen ist einzigartig und verdient es, erzählt zu werden.

Mit Der Rosa Winkel. Die Geschichte der Namenlosen bringen Martin Finnland und das Ensemble des Theaters Nesterval eine unvergleichlich immersive Performance ins brut, welche unter die Haut geht. Mit Fokus auf eine eher selten thematisierte Gruppe von Menschen, die von der nationalsozialistischen Ideologie betroffen waren – nämlich auf queere Personen – erlebt man hier einen gesellschaftlich sowie künstlerisch höchst gelungenen Abend, der zunächst verdaut werden muss, um dann hoffentlich auf ewig im Gespräch zu bleiben.

Willkommen, Bienvenue, Welcome

Das Betreten des Theaters fühlt sich bereits an wie eine Zeitreise. Neben der gewohnten Abgabe von Jacken und Rucksäcken an der Garderobe wird außerdem gefordert, das Mobiltelefon abzugeben – oder in einer speziellen verschlossenen Brusttasche mit sich zu führen. Von Zeit und Raum abgeschnitten beginnt unsere Reise, unsere Performance – denn wir, die Zuschauenden, spielen mit. Unsere Rollen: Wir spielen die Gedanken der Figuren, der Verfolgten, der Unterdrückenden, der Menschen.

Die Regeln des Abends werden vom Conférencière erklärt – ganz á la Cabaret. Nur sind wir hier nicht im Cabaret, sondern in der Kantine, Dreh- und Angelpunkt des Abends. Die gesamte Spiellänge von etwa drei Stunden über sind hier außer eines Barkeepers Mitarbeitende anwesend, die sich um Zuschauende kümmern, die eine Auszeit von den Narrativen brauchen. Ein Safe Space für uns und die Figuren, oder? 

Schicksalsfäden im dunklen Labyrinth

Das Publikum kann das räumlichen Gesamtausmaß unmöglich erschließen. Man bekommt pro Abend lediglich einen Bruchteil der möglichen Erzählungen mit. Laut den Schauspieler*innen sollte man im besten Fall durchgehend einer Figur folgen oder mehrmals kommen und sich auf andere Pfade einlassen. Ein sehr einladender Gedanke, denn die Neugierde auf die Schicksale, die man nicht miterlebt, ist groß. Das sei nicht nur als dramaturgisch gelungener Umstand festzuhalten, sondern auch als umwerfende Marketing-Idee.

Die dunklen Gänge, durch die man von den Darstellenden geleitet wird, sind mal Straßen, mal Hinterhöfe, mal Gefängnisflure. Im Verlauf des Abends fallen jedoch die schwarzen Schleier und entblößen die Zimmer – Privaträume, Büros, Läden - welche nach und nach, mit Verlauf der Kriegsjahre – immer verwüsteter werden. Die steigende Unruhe der Figuren wird auf das Publikum übertragen: Während ich zu Beginn der Performance noch in einem alltäglich-angenehmen Tempo durch die Gänge gegangen bin, beschleunigt sich nun meine Bewegung. Die Nazis besetzen die Stadt und die Anspannung ist zum Greifen nah. Denn hinter jeder Ecke könnte jemand lauern, der unseren Figuren nicht wohlbesonnen ist. 

Wo Zuschauende zu flüsternden Gedanken werden

Als Gedanken existieren die Zuschauenden nur in Gegenwart der Figuren – dies ist eine der Regeln des Abends. Gedanken können zwar ihre Meinung sagen, erklärt uns der Conférencier, jedoch nicht in die tatsächliche Realität der Figuren eingreifen. Und so folgt man den Figuren, den individuellen Schicksalen und wird ab und an sogar nach der eigenen Meinung gefragt – an diesem Abend entscheide ich, welche Kette eine Figur trägt und wie genau sie den Brief an ihre Geliebte im Konzentrationslager formuliert. Ausruhen kann man sich in dieser Meta-Rolle jedoch nicht. Man fühlt sich nirgendwo sicher, wie auch die Figuren, die im Untergrund leben und sich dauerhaft in Gefahr befinden.

„Was ist Theater?“ – Diese so oft gestellte und nie wirklich beantwortbar scheinende Frage bekommt durch dieses Projekt eine neue Dimension. Die allgemeine Begeisterung schwebt auch nach der Performance noch in der Luft, denn das Theater verwandelt sich in einen Ort des offenen Diskurses: Die Darstellenden und Zuschauenden kommen in der Bar zusammen und es entstehen spannende Gespräche über Geschichte und Gesellschaft, über das, was wir aus dem Erlebten („Gesehenen“ reicht hier nicht!) für die heutige Zeit mitnehmen – mit der kürzlich abgehaltenen Europawahl im Hinterkopf läuten in den Köpfen alle Alarmglocken. Ein Theaterabend, der sich traut, konventionelle Grenzen zu überschreiten und deutlich warnt: Niemals vergessen!

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