Was Grigory Sokolov mit Pompeji verbindet

Wie der vielleicht beste lebende Pianist ohne ein Wort zu sagen oder sein Programm zu ändern die Ukraine unterstützt und wo er ausgeladen wurde, weil er aus Russland stammt. Ein Klavierabend der Sonderklasse im Konzerthaus.

Grigory Sokolov /// DG, Klaus Rudolph (c)

War es noch dunkler als beim letzten Mal vor einem knappen Jahr?  Wahrscheinlich nicht, Grigory Sokolov wird beim Licht genauso penibel auf die (für ihn) perfekte Menge achten, wie bei seinem Anschlag oder bei der exakten Anzahl der Trauben, die er sich vor seinem Konzert genehmigt. Das mit den Trauben ist natürlich erfunden, ich habe keine Ahnung ob und was er vor dem Konzert isst. Dass er aber genau ausgeklügelt hat, was das ist, davon gehe ich stark aus. Dieser Mann strahlt eine wahrhaft Kant’sche Weisheit (und Bescheidenheit) aus, alles, was er tut, scheint einen guten Grund zu haben.

Migränefreundliche Lichtverhältnisse

Es war jedenfalls sehr dunkel, als er vor der vollen Stuhlreihe auf der Bühne (das Konzerthaus war bis zum Anschlag voll, inklusive Orgelbalkon) zum Flügel schritt. Für meine migränegeplagte Freundin gerade dunkel genug, fürs Notizenmachen eher schlecht. Aber hier sollte man sich sowieso nicht im Programmheft vertiefen: Einen so feinen, tiefmusikalischen und intelligenten (sowie noch lebenden) Pianisten wie Grigory Sokolov könnte ich nicht nennen.

Ein Klavierstück setzt sich wie ein Mosaik aus vielen, vielen Steinchen zusammen. Man kann mit Anschlägen nie einen echten Pinselstrich setzen, wie mit einem Streich- oder Blasinstrument. Wer aber einmal im nationalen Archäologiemuseum in Neapel Mosaiken aus Pompeji gesehen hat, weiß, dass mit unglaublich viel Feingefühl und Präzision auch aus Steinchen fast gestochen scharfe Meisterwerke entstehen können. Solche Kleinode sind auch die Bilder, die Sokolov auf dem Flügel malt.

Das Erklärvideo über den Unterschied zwischen einem Hammerklavier aus Beethovens Zeit und einem modernen Flügel des Professors Malcolm Bilson öffnet einem die Augen. Sehr zu empfehlen. Ich bin sicher, Bilson würde auch bei Sokolov (vielleicht auch berechtigte) Kritik ausüben, was seinen Beethoven angeht. Während er die Eroica-Variationen spielte, klang jedenfalls jeder Ton, jede Linie, jede Verzögerung, wie in Stein gemeißelt. Das musste so sein. Musikalisches Mittelmaß von Exzellenz zu trennen ist als junger Hörender auf dem allgemein hohen technischen Niveau nicht immer leicht. An diesem Abend schrien mir jedenfalls alle meine Rezeptoren zu:

Dávid, das hier ist exzellent!

Über seine drei Intermezzi Op. 117 schrieb Brahms selbst, es seien „drei Wiegenlieder seiner Schmerzen“. In diese gerade leider so passende Stücke packte Sokolov eine irre Menge an Emotion. Als Vertreter eines Russlands der Kultur, der Menschlichkeit, das es heute (auf staatlicher Ebene jedenfalls) nicht mehr zu geben scheint, muss ihm der grausame Krieg in der Ukraine sehr nahegetreten sein. Als Zeichen seines Mitgefühls spendete er im Rahmen der Solidaritätswoche des Konzerthauses seine gesamte Gage an Nachbar in Not (ich schätze blind auf über 30k, ist sowieso nebensächlich). Sonst kam kein Wort von ihm, kein Statement, keine ukrainische Zugabe (dafür vier russische, keine davon hat Putin geschrieben...). Und das ist auch richtig so, er sprach mit seiner Musik.

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Intendant Matthias Naskes Ruf nach Differenzieren bei russischen Künstler*innen in seiner Ansprache erhielt prompt Applaus. Recht hat er, es gibt überhaupt keinen Grund, einen Sokolov zu canceln, der seit Jahrzehnten in Italien lebt und nichts mit dem Putin-Regime zu tun hat. Genauso steht es mit fast allen russischen Künstler*innen. Dass er in Athen offensichtlich ausgeladen wurde (ein Statement habe ich nicht gefunden, sein geplantes Konzert am 14. April wurde aber von der Website gelöscht, ich habe bei der Institution nachgefragt. Update: Angeblich wurde das Konzert aus programmatischen Gründen verschoben…), dass hier und da Tschaikowski ersetzt wird, ist ein Armutszeugnis.

Mit Schumanns Kreisleriana nach der Pause spielte uns Sokolov in ein Delirium. Auch hier blieb seine kompromisslose Klarheit gepaart mit technischer Perfektion. Ich bin sicher, er wird nur so lange spielen, bis er es auf diesem Niveau kann. Von dem, wie er gestern gespielt hat, könnten das aber durchaus noch zehn Jahre werden. Daumen gedrückt, ich würde ihn gerne noch einige Male erleben.

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