Weil er’s kann

Über Dirndldichte, die Schwierigkeit, aufzuhören und Nachkriegsarchitektur - Der 94-jährige Herbert Blomstedt dirigierte die fast rein männlich besetzten Wiener Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen.

Ein drohender Zeigefinger, made in the twenties /// Salzuburger Festspiele / Marco Borelli (c)

Ein drohender Zeigefinger, made in the twenties /// Salzuburger Festspiele / Marco Borelli (c)

Herbert Blomstedt ist ein 94-jähriger Berufstätiger, eine lebende Legende und ein Tattergreis. Pardon für den Ausdruck, er passt leider, zumindest optisch. Er lief in kleinen Schlangenlinien und mit schrägen Schultern auf die Bühne des Großen Festspielhauses. Während er den ersten Satz von Arthur Honeggers dritter Symphonie dirigierte, kam ich nicht umher, Mitleid mit ihm und uns zu spüren. Muss er sich das wirklich noch antun? Schämen wir uns nicht, diesen alten Mann nicht in Ruhe zu lassen? Was wir hörten, war qualitativ in Ordnung, die Philharmoniker sind Toporchester genug, um auch so ein selten gespieltes Stück trotz der etwas vagen Leitung präsentabel zu spielen; ganz klar war diese Interpretation aber keineswegs.

Als Honegger das Stück 1946 schrieb, was Blomstedt nicht viel jünger als ich jetzt (nein, ich kann sein Alter nicht so richtig verarbeiten...). Die deprimierende Nachkriegsstimmung des Stücks resonierte gut mit der gedrückten Atmosphäre im Festspielhaus. Das graue Weltuntergangswetter spielte bestimmt eine Rolle, aber auch die Architektur des Hauses. Mich hat es überrascht, dass der Saal des vielleicht renommiertesten klassischen Festivals der Welt an ein veraltetes Mehrspartenhaus irgendeiner mittelgroßen deutschen Stadt erinnert. Die Farben (das abgesessene Helllila der Sitze, mein Gott...), die Materialien, alles atmet noch die frühe Nachkriegszeit. Was damals im zerstörten Europa bestimmt Weltklasse war, ist heute hoffnungslos veraltet.

Philharmonische Würstchenparty im Festspielhaus

Hoffnungslos veraltet ist auch der Frauenanteil der Philharmoniker, von meinem Platz im Parterre konnte ich nur sechs Musikerinnen zählen, allesamt in hinteren Reihen versteckt. Auch wenn sie nach empörend langen Querelen seit den späten 90-ern offiziell ins Orchester aufgenommen werden dürfen, sind Philharmonikerkonzerte salopp gesagt immer noch ziemliche Würstchenpartys.

In Person glänzt da nicht so viel… /// Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik (c)

In Person glänzt da nicht so viel… /// Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik (c)

Etwas Ablenkung von diesem traurigen Thema boten die schönen, lyrischen Passagen des zweiten Honegger-Satzes, die der Schwede mit erstaunlich agilen Handgelenkbewegungen anführte. Im letzten Satz dirigierte er dann wieder mit seinem langen, krummen Zeigefinger, wie ein warnendes Mahnmal aus einer längst vergangenen Zeit. Kurz vor Schluss wurde es plötzlich ohrenbetäubend laut, ich selbst bekam fast einen Herzinfarkt. Zum Glück blieb Blomstedt ruhig stehen.

Franzosen in Tracht: Hohe Dirndldichte

In der Pause fiel die deutlich höhere Dirndldichte im Vergleich zu Wien auf, selbst die zwei Franzosen neben mir trugen Tracht. Das und die alte Halle gaben dem ganzen Konzert einen leicht provinziellen Touch. Gleichzeitig spürte man förmlich den Geruch von Geld, der aus den betuchten Besucher*innen strömte und war beeindruckt von der Tatsache, dass hier erst am Abend zuvor die Netrebko sang (auch wenn die ORF-Übertragung entfiel, man munkelt, da die Diva unzufrieden mit den mäßigen Kritiken der Premiere war...).

Apropos große Namen: Das ist wohl einer der wichtigsten Gründe, warum Blomstedt trotz seines biblischen Alters auf der Bühne stand. Das Haus war rappelvoll, alle wollten den Maestro nochmal hören. Mich inkludiert, immerhin war ich bereit, um 6 Uhr für ihn aufzustehen. Der zweite Grund ist wohl, dass es einfach schwer ist, aufzuhören. Den Applaus nicht mehr zu bekommen, die Kontrolle über das Orchester spüren (auch wenn während der Symphonie oft genau diese Kontrolle fehlte...).

„Ich heiße Brahms, mir fällt nichts ein“

Etwas überraschend lieferte Blomstedt nach der Pause einen weiteren, besseren Grund: Die vierte Symphonie von Brahms gelang göttlich. „Ich heiße Brahms, mir fällt nichts ein“, diesen Text unterlegten Spötter dem einleitenden Hauptmotiv des ersten Satzes. Zugegebenermaßen kann man bei Brahms manchmal das Gefühl haben, er würde an einer Idee zu lange herumkauen, aber bestimmt nicht bei dieser Symphonie. Alle vier Sätze sind Brahms vom Besten. „Mir fällt nichts ein!“, brüllte das Orchester am Ende des Kopfsatzes, während Blomstedt immer mehr in Schwung kam.

Deswegen macht er also weiter, weil er es eben doch noch kann, an guten Tagen mit den entsprechenden Werken zumindest. Zum Schluss hielt er die Spannung und die Stille besonders lang, ein toller Moment. Nach dieser Glanzleistung waren die Standing Ovations und der frenetische Jubel nicht übertrieben. Man konnte nicht nur wegen des Namens, auch wegen der Musik begeistert sein und mit Überzeugung leise murmeln: alter Schwede.

Kleine Ergänzung: Im folgenden Interview merkt man gleich, wie hell im Kopf und wie liebenswürdig dieser alte Schwede ist:

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