Zuhause in Zwischenräumen

Das Rakete Festival im TQW bietet jungen Tänzer*innen und Performer*innen eine Plattform. Dabei wird deutlich, welch einzigartigen Beitrag Performancepraktiken in aktuellen Diskursen rund um „Identität“ leisten können.

several attempts at braiding my way home /// (c) Amina Seid Tahir

Fabulieren, aus dem lateinischen „fabulari“, was so viel wie „erzählen“ oder „schwätzen“ heißt, bedeutet ein Erfinden von nicht-realen Geschehnissen, Figuren und Beziehungen. Also ein Synonym für Fiktion vielleicht, aber mit einer zusätzlichen, dezidiert fantasievollen Dimension. Man fabuliert konventionell mit Worten. Aber wer glaubt, dass die Praxis des Fabulierens der Sprache vorbehalten ist, wurde beim vierten und letzten Abendprogramm des Rakete Festivals im Tanzquartier Wien (24.& 25. Mai) eines Besseren belehrt. 

Luca Büchler und das Geschwisterpaar Amina und Adam Seid Tahir haben zwei perfekte Beispiele dafür geliefert, dass Performance dort anfängt, wo die Sprache endet. Und dass man ohne Worte genauso gut, wenn nicht sogar besser, Geschichten erzählen kann. Während Büchler im Zeitraffer durch die Nacht tanzte, produzierten Tahir und Tahir dynamische Rituale des Nachhausekommens. Was beiden Performances gemein war, ist eine einzigartige Atmosphäre mit elektrisierender musikalischer Untermalung, beeindruckendes Lichtdesign, tänzerisches Geschick und eine erfrischende Kurzweiligkeit.

Golden Hour Blues

Luca Büchlers after the end, before the beginning eröffnete, passend zum Titel, den Abend. Der Titel bezieht sich auf das Ende des Tages, vor dem Anbruch des neuen: Eine Reise durchs Zwielicht. Das Publikum sitzt auf Bänken im Raum verteilt. Die Auflösung der konventionellen Trennung von Zuschauer*innenraum und Bühne war somit gegeben. Büchler bewegt sich zwischen den Bänken wie ein Suchender im nächtlichen Park, in der Bar und im Club, stets die Impulse der Musik von Paul Ebhart aufnehmend. Ein großer Scheinwerfer aus dem sich orangenes Licht ergießt, begleitet ihn stets.

Büchler befasst sich mit der (auch kunst- und musikhistorisch betrachtet) melancholischsten Tageszeit. Dem Programm zufolge, wollte Büchler eine atmosphärische Performance kreieren, die die einzigartige Stimmung des Sonnenuntergangs, der „Golden Hour“ und der Dämmerung einfängt. Das ist ihm gelungen. Dabei wurde deutlich, welch befreiende Wirkung dieser liminale Raum auf den Körper hat: Der Übergang von Tag auf Nacht als transformatives Moment. Denn in diesem Moment kann ein im Tageslicht allzu sichtbarer, von allen gesellschaftlichen Zuschreibungen geprägter und vielleicht auch gebremster Körper Fahrt aufnehmen, aufleben und seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Paul Ebharts Musik, die ein Spektrum zwischen sphärischen Klängen, elektrisierenden Beats und lustvoll melancholischen Gitarrensolos ausmacht, trug einen großen Teil zu diesem Gelingen bei.

Die Segel spannen

Während Büchler durch die Gestaltung des Raumes und die Wege, die er darin zurücklegte, das Publikum aktiv einbindet, nimmt man bei der Performance von Tahir und Tahir eher eine Zeug*innenrolle ein. Fast voyeuristisch fühlte es sich an, die äußerst intimen Anfangsmomente zu beobachten, in denen Adam Seid Tahir langsam und bedächtig die eigenen langen Zöpfe auflöste und diese in einen großen, von der Decke hängenden Haarteppich einflocht. Die Haarpflege ist ein zentraler Bestandteil afrodiasporischer kultureller Praktiken und dient in several attempts at braiding my way home, einer vom Geschwisterpaar Adam und Amina choreografierten und von Adam performten Arbeit, der Auseinandersetzung mit der eben dieser diasporischen Subjektivität.

Sobald alle Zöpfe in das große Geflecht integriert und die Adam’s Haare sorgsam eingeölt und unter einem Durag versorgt waren, begann der Tanz. Begleitet von der Musik von Crystallmess, erkundete Tahir die Verflechtung des Selbst in einer gewaltvollen Geschichte, durch Bewegung und zärtlich-widerständige Praktiken der Self-Care. Dabei ließ Tahir sich von den schummrigen Meeresströmungen (das Lichtdesign stammt von Jonatan Winbo) leiten. Der Ozean ist nicht nur ein bedeutender Teil der skandinavischen Geschichte, von der das Geschwisterpaar aus Stockholm wohl geprägt ist, sondern auch zentral für Schwarze Theoretiker*innen wie Saidiya Hartman, die das Kozept der Critical Fabulation entwickelte. Hartman schrieb in ihrem bahnbrechenden Essay Venus in Two Acts über die vergessenen versklavten Frauen auf den Schiffen in der Middle Passage, deren Geschichte mitten auf dem Ozean ihr Ende fand und nur in einem gewaltvollen Nebensatz in den Heldengeschichten amerikanischer Kolonialisten in die Archive des Westens einging.

Durch Critical Fabulation lassen sich alternative Geschichte(n) erzählen, um sich, abseits von Gewalt reproduzierenden Narrativen, mit der Diaspora zu befassen. Aufbauend auf diesen Strategien spannten Tahir und Tahir die Segel (in diesem Fall ein aus Haaren geflochtenes) und eigneten sich die kolonialistisch geprägte Seefahrt, die „Entdeckungsreise“ an. Dabei geht es nicht um einen Versuch, das Geflecht, das die diasporische Identität ausmacht, zu entwirren. Vielmehr scheint darin eine identitätskritische Berufung auf die relationale Qualität von Kollektivität und Community zu liegen: Die Haare, Teile individueller Körper, werden zu Elementen eines untrennbaren Ganzen. Dies geschieht in einem stetigen Prozess des Verhandelns, wobei tänzerisch gekonnt Widerstand auf- und abgebaut wird, stets begleitet von einer berührenden Zärtlichkeit gegenüber dem eigenen und dem Zeit und Raum überwindenden, kollektiven Körper. 

Performative Fabulation

Die Arbeiten von Büchler und den Tahir-Geschwistern wagen sich ans performative Fabulieren – eine dringend benötigte Praxis. Denn sie bietet eine Möglichkeit, dem immer wiederkehrenden Dilemma zu entkommen: Wie spricht man in der Sprache des Unterdrückers über das Unterdrückt-sein? Wie erzählt man gewaltvolle Geschichten, ohne die Gewalt zu reproduzieren? Viel mehr als darum, ein zerbrochenes „Ganzes“ widerherzustellen, oder zu einem „Ursprung“ zurückzukehren, geht es bei Kunst, die sich mit Diaspora befasst, um die revolutionäre Qualität von „boder-crossing practices“, wie sie der Kunsthistoriker Kobena Mercer nennt.

Die Spezifität der Performance, ihre Temporalität und Unmittelbarkeit, die Ephemerität und Dynamik des bewegten Körpers, fangen das Zwielicht, den Übergang und das Dazwischen ein, wie es dem statischen Bild und den definitionsverfangenen Worten nur fragmentiert gelingen kann. Der Teppich aus Haaren ähnelt einer Landkarte und in diesem Sinne mögen uns die Performances von Luca Büchler und Tahir & Tahir neue Orientierungsmöglichkeiten bieten: hin zu einem verflochtenen und vor allem verkörperten, kollektiven Bewusstsein des Liminalen. Auf jeden Fall sind diese Gemeinsamkeiten ein Zeichen unserer Zeit, ein Zeichen für das dringende Bestreben, alternative Ontologien weitab von dominanten westlichen Narrativen zu fabulieren. Und wie Büchler und Tahir & Tahir beweisen, ist die Relevanz der Performance für dieses Bestreben unverkennbar.

Anmerkungen / genau Quellenangaben

Saidiya Hartman, Venus in Two Acts, in : Small Axe No. 26, Vol 12/2, Juni 2008, S. 1-14.

Kobena Mercer, The Longest Journey: Black Diaspora Artists in Britain, in: Art History Vol. 44/3, Rethinking British Art: Black Artists and Modernism, 06/2021, S. 503.

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