Bach, der Unkaputtbare

Historisch informiert im Musikverein, philharmonisch im Konzerthaus: Warum Bachs zwei Passionen zurecht ausverkauft waren, es nicht immer historisch informierte Aufführungen braucht und was Wien von Bach lernen kann.

Die Johannespassion in Bachs eigener Handschrift /// Staatsbibliothek Berlin (c)

Anhänger der klassisch-romantischen Symphonik mussten am Wochenende stark sein: Bachs große barocke Passionen nahmen Musikverein und Konzerthaus ein. Los ging es am Samstagnachmittag mit Bachs Matthäuspassion im Konzerthaus. Die Besetzung spricht dabei für sich: die Philharmoniker, der Arnold Schönberg Chor, ein Kinderchor aus der Opernschule sowie namhafte Solist*innen wie Julian Prégardien und Christina Landshamer gaben sich unter der Leitung von keinem Geringeren als Franz Welser-Möst die Ehre. Doch zunächst zum Werk.

(Spoiler: Jesus stirbt)

Die Matthäuspassion ist sicherlich eines der bekanntesten und meist-aufgeführten Werke Johann Sebastian Bachs. Zurecht! Die Handlung ist dem Publikum in der Regel zumindest in Grundzügen bekannt. Trotzdem schafft es Bach, die Spannung ganze drei Stunden aufrechtzuerhalten, wobei sich anspruchsvolle Chorstücke mit erzählenden Rezitativen, kunstvollen Arien und andächtigen Chorälen abwechseln.

Interessant sind dabei die verschiedenen Rollen der Beteiligten – während die Solist*innen entweder das Geschehen voranbringen (so der Evangelist als Erzähler) oder die Handlung in Arien kommentieren, ist der Chor in einem leicht schizophrenen Zwiespalt zwischen aufgebrachten Turba-Chören (als die Stimme der Menschenmasse) und den insgesamt zwölf andächtigen protestantischen Chorälen gefangen. So kommt es vor, dass man als Sänger*in zunächst etwas hysterisch die Kreuzigung Jesu fordert, um direkt im Anschluss als fromme*r Christ*in seine Opferbereitschaft anzuerkennen.

Die Welt ist eine andere, die Musik packt aber immer noch

Die Passion beginnt mit einem großangelegten Eingangschor, der heute wie vor knapp 300 Jahren beeindruckt. Versetzt man sich in die Situation der durchschnittlichen Hörerschaft der Uraufführung (also mehr oder weniger gut verdienende Leipziger Bürger*innen, die wie jedes Jahr mehr oder weniger motiviert den Karfreitagsgottesdienst in der Thomaskirche besuchen) wird das umso deutlicher. Wenn man im 18. Jahrhundert in diesem musikalischen Durcheinander, das tonal noch von e-Moll geprägt ist, plötzlich den im lutherischen Raum der damaligen Zeit vertrauten Choral „O Lamm Gottes, unschuldig“ in beruhigendem G-Dur hört, so ist der Effekt vermutlich noch größer als heute. Nicht ohne Grund hat Bach in der autographen Partitur eben diesen Choral im Gegensatz zu allen anderen Stimmen in roter Tinte notiert.

Im Verlauf der Passion gibt es selbstverständlich weitere musikalische Höhepunkte, so zum Beispiel kurz vor dem Ende, wenn das vorher noch aufgebrachte Volk erkennt, dass Jesus tatsächlich Gottes Sohn gewesen ist („Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“). Diese Erkenntnis vertont Bach auf eine so romantisch anmutende Art, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt auch alle Mendelssohn-Fans auf ihre Kosten kommen. Der Name Mendelssohn hat mit der Matthäuspassion überhaupt eine engere Verbindung, da durch die Aufführung der Passion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy die Bach-Renaissance des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Näheres zur Entstehung der Passion und vor allem zu ihrer Wiederentdeckung durch Mendelssohn gibt es unter folgendem Link im unteren Video, das als Teil der Dauerausstellung des Eisenacher Bachhauses entstanden ist.

Herzstück der Matthäuspassion ist ein weiterer Choral („O Mensch, bewein dein Sünde groß“). Ähnlich wie im Eingangschor wird auch hier die bekannte Choralmelodie vom Sopran (beziehungsweise Kinderchor) gesungen. Allerdings hatte Bach diesen Chorsatz ursprünglich als Eingangschor für eine spätere Fassung seiner Johannespassion eingeplant, die bereits drei Jahre vor der Matthäuspassion uraufgeführt wurde. Am Samstag Abend gab es auch die Johannespassion im Wiener Musikverein zu hören.

‘Historisch informiert’ vs. philharmonisch

Im Zentrum der Aufführung im Musikverein stand das Concentus Musicus Wien, dirigiert von Stefan Gottfried. Dazu sang der Wiener Singverein. Im Gegensatz zum Konzerthaus hat sich der Musikverein also durchaus an einer historisch informierten Aufführung versucht. Gottfrieds Vorgänger Nikolaus Harnoncourt hätte das sicher gefallen („Die Musik jeder Epoche kann mit den Klangmitteln ihrer Zeit am lebendigsten dargestellt werden“). Grundsätzlich gilt für Johannes im Vergleich zu Matthäus natürlich: (mehr oder weniger) gleiche Handlung, vor allem gleicher Schluss, ähnliche Besetzung mit gleicher Rollenverteilung und selbstverständlich der Karfreitagsgottesdienst als ursprünglich intendierter Ort der Aufführung.

Die Johannespassion hat im Vergleich mit der Matthäuspassion aber wohl die turbulentere Geschichte hinter sich, wurde sie doch bereits von Bach selbst mehrfach zum Teil grundlegend bearbeitet. In aktuellen Editionen und Aufführungen stellt das natürlich ein Problem dar, weil die Quellenlage insgesamt nicht besonders umfangreich ist. Außerdem musste sich Bach vor der Uraufführung seiner ersten Leipziger Passion noch mit den Vorstellungen seiner Vorgesetzten auseinandersetzen. Näheres zu den Leipziger Querelen und zum entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang der Johannespassion gibt es hier.

Phillies mit Kompromiss

Obwohl es Bach also verboten war, zu opernhafte Kirchenmusik zu komponieren, ist der Einfluss der Oper sowohl bei Matthäus als auch bei Johannes bemerkbar, besonders dann, wenn man es bei der Aufführung nicht mit Harnoncourt hält. So war die Art, wie am Sonntagabend im Konzerthaus noch einmal die Matthäuspassion aufgeführt wurde, eher ein Wiener Kompromiss. Ohne Cembalo und weitgehend ohne historische Instrumente im Allgemeinen (einzige Ausnahmen stellten Blockflöten und eine Gambe dar) haben die Philharmoniker immerhin auf ausschweifendes Vibrato und dergleichen verzichtet. Wer auf typisch barockes Tempo Rubato gehofft hat, wurde ebenfalls enttäuscht, stattdessen setzte Welser-Möst einige Chorstücke erschreckend schnell an (so zum Beispiel den Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“). Der Begeisterung des Publikums hat das aber keinen Abbruch getan; Applaus gab es vor der Pause und nach dem Schlusschor minutenlang.

Ob Bach selbst sich solch tosenden Applaus für seine Passionen gewünscht hätte, ist fraglich. Besonders vor der Pause hätte er darüber vermutlich eher den Kopf geschüttelt, war doch an dieser Stelle in Leipzig die Predigt vorgesehen. Aber das Wiener Publikum braucht bei einem so langen Werk scheinbar die wohlverdiente Pause und freut sich, nach 70 Minuten endlich einmal klatschen zu dürfen. Vielleicht braucht es in Wien zuweilen ein bisschen mehr Mut zur Bescheidenheit; in dieser Hinsicht wäre Bach selbst sicher kein schlechtes Vorbild.

Aber egal ob man nun als Anhänger*in der historisch informierten Aufführungspraxis den Weg ins Konzerthaus gefunden hat, man wurde keinesfalls enttäuscht. Denn das musikalische Können der Philharmoniker, des Schönberg Chores, der Solist*innen und natürlich auch der Kinder aus der Opernschule steht außer Frage. Und so gab es am Sonntag einen würdigen Abschluss für dieses Passions-Wochenende. Egal ob historische oder modernisierte Aufführung; Bachs Werke kann nichts entstellen, vor allem wenn man bedenkt, dass Bach ja selbst munter bearbeitet und umgeplant hat, immer den jeweiligen Aufführungsbedingungen entsprechend. Besonders im sonst doch eher wenig barock geprägten Konzertprogramm bieten sich Bachs Passionen in berührender Weise zum Durchatmen an.

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