Bird: Magie im Milieu

Andrea Arnolds neuer Film Bird ist eine einfühlsame Milieustudie über eine prekäre Familie. Der poetische Sozialrealismus zeigt die Ästhetik des Alltäglichen, ohne in Armutskitsch abzugleiten.

© Polyfilm

Filmhaus Spittelberg | Filmcasino

So. 16.2. | Di. 18.2. | Mi. 19.2. | Do. 20.2.

Votiv Kino

Filmfrühstück So. 23.2

Verwackelte Smartphone-Aufnahmen einer Möwe durch Gitterstäbe hindurch – mit dieser sehr offensichtlichen Symbolik beginnt Andrea Arnolds neuer Spielfilm Bird. Danach sehen wir die Protagonistin Bailey (Nykyia Adams), wie sie ihr ramponiertes Smartphone einsteckt und sehnsüchtig, vielleicht auch neidisch, zwei blonden Mädchen nachblickt, die, bunt gekleidet, Tanzschritte spezifischer Riverdance-Choreografien üben. Wer einigermaßen mit Andrea Arnolds Filmografie vertraut ist, dem wird dieses Setting bekannt vorkommen. Bird ist eine weitere Milieustudie der Regisseurin, die nach American Honey an den Ort aus einem ihrer ersten Kurzfilme (Wasp) zurückgekehrt: Kent.

Die Regisseurin begibt sich also inhaltlich wie geografisch auf vertrautes Terrain. Bird ist eine Milieustudie über das Prekariat; die Marginalisierten der Gesellschaft, über deren Köpfe hinweg entschieden worden ist, dass es zwischen uns keinen Platz für sie gibt. Bailey lebt mit ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) und ihrem Bruder Hunter (Jason Buda) in einem heruntergekommenen Gebäude, das mehr besetzt als bewohnt wird. Bug ist ein junger Vater und Barry Keoghan spielt ihn als jemanden, der einerseits Kind geblieben ist und andererseits nie eine Kindheit genießen durfte. Schwankend zwischen manischer Getriebenheit und tiefsitzender Verletzlichkeit, ist er eine tragende Säule der hervorragenden schauspielerischen Darstellungen des Films. Nykyia Adams, zur Zeit der Dreharbeiten noch 12 Jahre jung, gehört, wie so oft bei Arnolds Filmen – die Regisseurin besetzt ihre Rollen gerne mit unbekannten, aber ausdruckstarken Schauspielerinnen: Katie Jarvis (Fish Tank), Sasha Lane (American Honey) – zu den großen Entdeckungen der letzten Jahre. Adams schafft es, das Schwellendasein als Jugendliche mit all den Unsicherheiten, dem Zorn, den Ängsten und Freuden zu vermitteln. Franz Rogowski, als dritte Säule und den titelgebenden Bird verkörpernd, setzt sich inhaltlich wie auch schauspielerisch von den anderen Beiden ab.
Dessen sicherlich ein wenig unangenehm autistisch-gecodete Performance ist dermaßen unpassend und unangepasst an den Film, dass sie eigentlich nicht funktionieren sollte. Jedoch soll seine Rolle generell in dem Sozial-Realismus herausstechen, da Arnold mit ihr ihren Film näher an einen magischen Realismus rückt bzw. ein magisch-realistisches Element einfügt.

Regisseurin Andrea Arnold /// © Rankin

In Bird findet Arnold das Poetische im Sozial-Realistischen. Der dokumentarische Stil, vermittelt durch den ein wenig klischeehaften Einsatz von Shaky-Cam-Aufnahmen, wird mit grobkörnigen, zur goldenen Stunde aufgenommenen Bildern verbunden. Das Naturalistische wird mit Symbolik aufgeladen. Möwen, Nachtfalter und der mit Insektentattoos übersäte Körper von Bug – darunter ein Tausendfüßler, der sich von seiner linken Brust bis in sein Gesicht hochschlängelt – werden zu Allegorien. Die Frage, die sich stellt – abgesehen von der kritischen Bemerkung, dass Vögel für eine Coming-of-Age-Story ein etwas abgenutzt Bild sind: macht sich der Film einer Verkitschung dieses Milieus schuldig, wenn er Nahaufnahmen von Nachtfaltern in sonnendurchfluteten Räumen zeigt? Miserabilismus und Armutskitsch dürfen zu Recht kritisiert werden, bei Bird handelt es sich jedoch vielmehr um eine Öffnung des Kunstbegriffs. Die ästhetischen Bilder des Films werden intradiegetisch von Bailey gedoppelt, da sie mit Hilfe ihres recht ramponierten Smartphones und eines alten Beamers eben jene Aufnahmen, die wir als Publikum sehen, an ihre Zimmerwand projiziert. Kunst findet sich nicht nur im alltäglich, sondern ist auch für alle sozialen Schichten gedacht. Der Kunstbegriff, der so gern als etwas Elitäres angesehen wird und sicherlich auch über strukturelle Faktoren etwas Ausschließendes beinhalten kann, steht aber gleichzeitig allen offen und kann nicht nur von allen produziert, sondern vor allem von allen genossen werden. Baileys Aufnahmen sind ihre Form des künstlerischen Ausdrucks.

Dass kein Armutskitsch aufkommt liegt daran, dass der Film seine Figuren weder heiligspricht noch verteufelt. Stattdessen weist er immer über das Individuum hinaus auf die Struktur. Am deutlichsten zeigt sich diese Ambivalenz an Bug, dessen Egoismus, schlussendlich für Bailey nachvollziehbar – wieso sollte ihm nicht auch etwas Glück gegönnt sein? – sich im ständigen Kampf mit seiner Fürsorge für seine Kinder, die kaum älter als er zu sein scheinen, steht. Die emotionalsten Momente findet der Film in der Solidarität der Gemeinschaft und nicht im Glück des Individuums. Dabei ist es eine Solidarität, die nicht aufgrund der gemeinsamen Armut entsteht, sondern trotz aller Widrigkeiten demonstriert wird. Die prekäre Situation dient nicht als Moral bzw. Möglichkeit der charakterlichen Besserung, im Sinne eines: „Wir haben nichts und deshalb schauen wir aufeinander“, sondern die Empathie, die von den Figuren bewiesen wird – etwa die aufmunternden Worte der Verlobten Bugs zu Bailey, als sie ihre erste Menstruationsblutung bekommt – ergibt sich aus sich selbst heraus, als allzu menschliches Bedürfnis.

So ist Bird ein wunderschöner, emotionaler Film, der versteht, dass der absolut größte Vorteil eine Gemeinschaft darin besteht, seine Freunde dazu bringen zu können, einer Drogenkröte den Coldplay-Song Yellow vorzusingen, damit diese ihren halluzinogenen Schleim absondert.

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