Der Kunst ihre Freiheit…oder auch nicht

Was darf die Kunst? In Thomas Melles Ode wird über diese und weitere Fragen gestritten, bis alle Seiten Galle spucken. Regisseur András Dömötör setzt im Kasino auf Groteske und die unbestreitbare Wucht seines Ensembles.

(c) Karolina Miernik / Burgtheater

Den ansonsten leeren Bühnenraum dominiert ein überdimensionaler royalblauer Vorhang aus Plastikstreifen (Bühne & Kostüme: Sigi Colpe), hinter dem sich das neuste Werk der Künstlerin und Akademierektorin Anne Fratzer (gewohnt stark: Sabine Haupt) verbirgt. Das Kunstpublikum (Caroline Baas, Arthur Klemt, Tilman Tuppy) zeigt sich beeindruckt – es macht „Aaah!“ und „Oooh“ und fachsimpelt in betonter Gelehrtenterminologie, noch bevor das Objekt enthüllt ist. Dann teilt sich der Vorhang und offenbart: Nichts. Das Kunstwerk besteht aus nichts als seinem Titel. „Ode an die alten Täter“ nennt Fratzer ihre „Schöpfung“ und erklärt sogleich, was es mit der Widmung auf sich hat: Die Nazis hätten nämlich ihren Großvater getötet, einen gewalttätigen, alkoholabhängigen Mann, einen Vergewaltiger und Mörder.

(c) Karolina Miernik / Burgtheater

Wären die Nazis nicht gewesen, so Fratzer, hätten ihre Großmutter und Mutter vermutlich nicht überlebt und sie selbst hätte es nie gegeben. Muss sie diesen Verbrechern nicht also dankbar sein, fragt sie provokant. Die linken Kunstversteher tun, was sie am besten können: Sie empören sich und wollen das Objekt mitsamt seiner Schöpferin gecancelt sehen. Für einen weiteren Shitstorm sorgt ein Gerücht über den angeblichen früheren und noch viel entsetzlicheren Titel des Kunstwerks. Fratzer wird von ihrer Position als Rektorin der Akademie freigestellt. Die jungen woken Mitglieder der Kunstblase lächeln zufrieden und selbstgerecht, immerhin haben sie erfolgreich ein Verbrechen beseitigt. 

„3, 2, 1 … das Kunstwerk ist gecancelt“

Thomas Melle lässt in seiner Ode in üblicher sprachlicher Souveränität die brandaktuelle Frage nach der Freiheit der Kunst debattieren. Was darf die Kunst und wer darf Kunst? Was darf dargestellt werden und wer darf es darstellen? Ist „Kunst nicht auch das Reich des Bösen“ oder soll sie ein wohlig warmer, diskriminierungsfreier „Safe space“ sein? Ist Ästhetik noch gefragt oder eher nur noch Politik? Also, Politik auf der richtigen Seite des Spektrums, versteht sich. Virtuos und verspielt lässt Regisseur András Dömötör privilegierte Westeuropäer sich auf groteske Art gegenseitig zerfleischen, während „die Wehr“ in Gestalt einer Frau mit strengem Dutt und schwarzem Lederkostüm (Katharina Pichler) gelegentlich vorbeischaut, um auf Recht und Ordnung zu pochen und alle in ihre Schranken zu weisen. Die Kunst gerät somit von rechts und links gleichermaßen unter Druck.

(c) Karolina Miernik / Burgtheater

Wenn zehn Jahre nach Fratzers Tod Orlando (außerordentlich: Markus Mayer) auftritt, um mit einer jungen Schauspieltruppe die tragische Familiengeschichte der Künstlerin nachzustellen, stößt er auf beiden Seiten auf Unverständnis. Sein Ensemble findet den Inhalt viel zu triggernd, um sich ihm aussetzen zu wollen und auch „die Wehr“ schüttelt angesichts des mit umgeschnalltem Schwangerschaftsbauch am Boden herumrutschenden Orlandos nur den Kopf. 

Vorsicht: Dieses Stück enthält hochreizende Stoffe!

Das Schauspiel beschließt die Figur „Präzisa“ ganz in royalblau (wieder Sabine Haupt) mit einer „Ode für die Freiheit der Handlung, der Kunst und der Welt, für jegliche Vielfalt von Leben und Sinn…“, bevor sie unter dem Teppich verschwindet, der ein altes Ölgemälde einer Hetzjagd zeigt. Im Hintergrund fallen Schüsse.
Aufwühlend und auslaugend, teils irre komisch und zugleich schmerzhaft ist dieser Theaterabend im Kasino des Burgtheaters. Erhitzte Gemüter sind vorprogrammiert. Denn hier geht es nicht bloß um Problemchen und Streitigkeiten zwischen verschiedenen elitären Kunst-Bubbles, sondern um Grundsätze unserer Demokratie. 

Infos & Tickets: https://www.burgtheater.at/produktionen/ode 

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