Eine feministische Antwort auf Beatrice Frasls feministische Kritik von Yorgos Lanthimos’ Poor Things
Wieso Poor Things mehr ist als ein männliches Machwerk und die sexuelle Revolution noch nicht abgeschlossen. Ein Plädoyer für Vielfalt in der feministischen Filmkritik.
Beatrice Frasl schätze ich an sich sehr. Ich höre nicht gerne Podcasts, deshalb wäre es gelogen, zu behaupten, dass ich ein treuer Fan ihres Podcasts Große Töchter bin. Aber ich finde es gut, dass eine feministische Kulturwissenschaftlerin multimedial unterwegs ist, niederschwellig über Missstände in der Gesellschaft, in der Femizid-Hochburg Österreich, in der gegenwärtigen Kulturszene berichtet, dass sie sich nicht vor Diskussionen scheut, kontroverse Meinungen vertritt und dabei bei jungen Leuten gut ankommt. Den Thesen und Aufrufen, die Frasl in ihrem Buch Patriarchale Belastungsstörung (2022) formuliert, stimme ich zu: der barrierefreie, entstigmatisierte und unbürokratische Zugang zu psychologischen Hilfsleistungen ist ein Menschenrecht, das in Österreich und Deutschland mit Füßen getreten wird. Einen Wikipedia-Artikel, dessen durch eingefleischte Wikipedianer (generisches Maskulinum bewusst verwendet) vorgeschlagene Löschung zum Glück große Wellen geschlagen und viel Widerstand ausgelöst hat, hat die Kulturschaffende Frasl definitiv verdient.
Umso bedauerlicher finde ich, dass Frasls Filmrezension zu Yorgos Lanthimos’ Poor Things, erschienen in der Online-Ausgabe der Wiener Zeitung vom 15.03.2024, so einseitig, brachial, oberflächlich und von Ressentiments durchzogen ist, die so gar nicht zu Frasls Selbstverständnis als nuanciert und kritisch passen. Ich fasse Frasls Kritikpunkte kurz zusammen: der Film sei ihr als feministische Neuschreibung von Frankenstein „verkauft“ worden, was sie per se schon irritiert hätte, da Frankenstein als Werk einer Frau ohnehin feministisch sei (dazu später) und keine feministische Neuschreibung brauche, schon gar nicht durch einen Mann. Der ihr versprochene Feminismus sei durch den Film nicht eingelöst worden, denn die Protagonistin sei eine exklusiv-männliche Kopfgeburt, ein Opfer, das unterdrückt, sexuell ausgebeutet und pädophil missbraucht werde. Dass die Filmfigur das alles nicht so sehe, demonstriere, Frasl zufolge, noch deutlicher, dass auch der Film als solcher eine männliche Kopfgeburt sei, die Frauen ihre Unterwerfung als Empowerment verkaufen solle. Der falsche Feminismus, den Frasl dem Film unterstellt, sei eine unrealistische, zynische Männerfantasie, keine weibliche Selbstermächtigung.
Es wäre so leicht, die konservativ-misogyne Keule hervorzuholen, die Autorin der Filmkritik als „feminist killjoy“ zu bezeichnen, ihr „Humorlosigkeit“ oder „mangelndes Kunstverständnis“ vorzuwerfen. Warum muss eine feministische Kulturwissenschaftlerin dieses alte Klischee erfüllen? Warum bietet sie antifeministischen Leser~innen so viel Angriffsfläche? Warum präsentiert sie „Feminismus“ als so durchwegs unattraktive monolithisch-uniforme Denkweise? Warum entsteht der Eindruck, dass „die Frau“ für Frasl entweder als passives Opfer, als frustrierter Spielball mächtiger Männer, als asexuelles Kind oder gar nicht dargestellt werden darf? Und warum bin ich eigentlich so besonders enttäuscht, dass diese Filmkritik von einer Person stammt, deren Projekte ich eigentlich toll finde und deren Meinung ich eigentlich wertschätzen möchte?
Um der letztgestellten Frage auf den Grund zu gehen, ein kleiner Abriss zum Post-Poststrukturalismus: Was mir offensichtlich nicht gelingt, wenn ich die Autorin mögen will, aber ihre Filmkritik zum Haareraufen finde, ist die Trennung zwischen Urheberin und Werk. Diese Ambiguität muss ertragen, wer sich mit Kultur, Literatur, Musik, Architektur oder eben Film beschäftigt: Fan~in eines Werks zu sein, bedeutet eben nicht automatisch, Fan~in der Person zu sein, die dafür verantwortlich zeichnet, oder der Systeme, in denen die Urheber~innen großwerden konnten. Spätestens seit Roland Barthes’ „Tod des Autors“ gelten Werk und Autor~in in der Literatur-, Theater- und Filmwissenschaft als separate Kategorien. Durch diese Trennung können wir Fiktion und Rollenlyrik verstehen: Romanfiguren sind nicht automatisch alter egos der Autor~innen; nicht alle Popsänger~innen sind wirklich ständig unglücklich verliebt. In einem~r konkreten Autor~in sind sowieso immer viele Stimmen, Traditionen, Spuren, etc. diskursiv vorhanden – der ganze Geniekult wird damit als Illusion entlarvt.
Ins Extreme gesteigert, ergeben sich jedoch auch hier seltsame Auswüchse: einerseits kann das poststrukturalistische Gebot dazu führen, dass Werke eindeutig problematischer Urheber~innen weiterhin gelesen und gelobt, die zweifelhaften Aspekte ausgeblendet oder verharmlost werden. So passiert es, dass „enfants terribles“ wie Paulus Manker oder Till Lindemann immer wieder eine Bühne, mediale Aufmerksamkeit und Geld bekommen. Andererseits kann systemische Ungleichheit so noch weiter zementiert werden: wenn eh egal ist, wer ein Werk schafft (ob weißer Mann* oder marginalisierte Frau*), können wir ja gleich beim alten Kanon bleiben, wen interessiert denn dann noch Repräsentation oder Frauen*förderung, es zählt ja nur das Produkt, hinter dem die Person verschwindet. Zu Recht wird also vor allem seit den 1990er-Jahren Kritik an dieser strikten Trennung zwischen Urheber~in und Werk geübt, und vor allem von Künstler~innen, Kritiker~innen und Wissenschaftler~innen, deren Perspektiven aufgrund diverser Diskriminierungskategorien lange verunsichtbart wurden.
Es gehört zu den großen Paradoxien der Gegenwart, dass die plumpe Identifikation mit Labels eigentlich abgeschafft gehört, aber da sie ja doch im Alltag und im Kulturbetrieb eine Rolle spielt, affirmativ hervorgehoben und aktiv gefördert werden muss, um den Personen, die sonst unter den Tisch fallen, zu ihrem Recht zu verhelfen. Dass überhaupt „neutral“ über „das Werk“ gesprochen werden kann, ist auch ein Irrglaube: Donna Haraway spricht hier von der Illusion eines „views from nowhere“. Auch, wenn angeblich aus dem luftleeren Raum heraus vermeintlich distanziert beobachtet wird, schwingt die persönliche/ demographische/ ethnische/ geschlechtliche Ebene mit, und zwar sowohl der Hintergrund, den der~die Künstler~in mitbringt, als auch mein eigener, der dazu führt, dass ich bestimmte Sachen auf eine bestimmte Art wahrnehme. Meine Positionierung, meine Situiertheit, meine eigene Prägung ermöglichen mir einen „view from somewhere“. Dieser ist nicht besser, professioneller oder ehrlicher als irgendein anderer, aber er erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Er stammt von mir und speist sich aus den Perspektiven, die sich aufgrund verschiedener diskursiver Interaktionen in mir gebildet haben, nicht aus einem farben- und genderblinden Vakuum.
Wenn ich auch beim Lesen von Frasls Filmrezension poststrukturalistisch versage und mich unverhältnismäßig darüber ärgere, dass ausgerechnet Frasl hinter dieser Rezension steckt, so bin ich zumindest nicht die einzige: Frasl trennt selbst nicht zwischen Urheber~in und Werk und vertritt einen Standpunkt, den Donna Haraway als oberflächlichen „view from below“ bezeichnen würde, allerdings ohne diesen als solchen zu kennzeichnen. Im Film kommt ein männlicher Schöpfer/Vater vor – der Regisseur ist ein Mann – demnach sei der Film als Werk genauso problematisch wie die Geschichte, die er erzählt. So ließe sich Frasls Vermischung der Ebenen Werk-Urheber sehr simplifiziert darstellen.
Shelleys Frankenstein dagegen sei eine „inhärent feministische Erzählung,“ denn der Text stamme aus der Feder der 18-jährigen Mary Shelley, die die Tochter ihrer bemerkenswerten Eltern war und unwissentlich das Genre Science Fiction begründet hat. Frasl nennt ihr Anglistik-Studium als Beleg für diese Aussagen, aber weder Mary Shelleys Eltern noch ihr literaturgeschichtlicher Einfluss machen Frankenstein zu einer „inhärent“ feministischen Erzählung. Anhand des Textes zu zeigen, wieso Frankenstein ein feministisches Werk und Mary Shelley eine feministische Autorin ist, wäre interessant gewesen. Jeanette Winterson hat Mary Shelleys Biographie und Werk sowie die Überschneidungen der beiden Bereiche aus posthuman-feministischer Perspektive in zwei Büchern beleuchtet.
Es ist möglich, Frankenstein feministisch zu lesen, und viele Autor~innen und Wissenschaftler~innen tun das, aber Frasl tut es nicht. Auf die Erzählung selbst (in der Frauen übrigens keine zentrale Rolle spielen, weder empowert noch unterdrückt, weder human noch humanoid, und von patriarchalen Themen unabhängige Gesprächsszenen unter Frauen, wie es der nach der Comic-Zeichnerin Alison Bechdel benannte Test erfordern würde, liefert der Text auch keine) geht Frasl leider gar nicht ein.
Dabei gäbe es viele fruchtbare Querverbindungen zum Film, der sich auch mit der Frage beschäftigt, ob und wie eine geschaffene Figur, eine fiktionale Schöpfung, aus den Erwartungen und Projektionen, mit denen sie konfrontiert wird, ausbrechen kann. Bella Baxters Aktionsradius – bleibt sie das Werk ihres Pygmalion-Vaters oder bricht sie aus dieser Rolle aus? – wird im Film kontinuierlich ausgelotet: dabei werden Klischees aufgerufen und Traditionen evoziert, Bilder werden zitiert und Muster reproduziert, die aus Science Fiction, viktorianischen Bildungsromanen, Abenteuer-, Liebes- und Groschenromanen bekannt sind: der verrückte Wissenschaftler, der idealistische Student, das trotzige Kind, die mürrische Haushälterin, die Sexgöttin, der gefährliche Verführer, die verschlagene Puffmadame, der ultimative Bösewicht.
Was mit diesen Vorlagen heute noch anzufangen ist, ob man sich von ihnen lösen kann/muss, was sie „uns“ heute noch „mitteilen“ können und ob man in so klassischen Genrekonventionen noch einen originellen Twist finden kann, sind Fragen, die der Film dem Publikum stellt, aber auch seiner Protagonistin. Bella wird in einen Pool aus Referenzen und Zitaten hineingeworfen: alle Figuren in ihrem Umfeld sind wandelnde Klischees; als wissenschaftliches Experiment ihres genialischen Ziehvaters ist Bella die personifizierte tabula rasa, in die alle ihre jeweiligen Hoffnungen, Wünsche, Ideen und Fantasien einschreiben wollen. Die Männer im Film erhoffen sich in ihr die Projektionsfläche, die eine zum Leben erweckte Statue ihnen bieten sollte.
Wie die Verkörperung dieser Fantasien mit dieser ihr zugedachten Rolle umgeht und sich dazu verhält, ist die Kernfrage von Poor Things, aber auch von Shelleys Frankenstein, wenn das erschaffene Monster sich der humanistischen Bildung verschreibt, Französisch lernt und den westlichen Kanon liest. Inwieweit hat der Schöpfer Macht über seine Schöpfung, und inwieweit kann es der Schöpfung gelingen, sich von ihrem Schöpfer zu lösen, diesen zu übertreffen oder aus allen Zuschreibungen auszubrechen? Diese Themen verhandelt der Film anhand einer Figur, deren biologisches Alter nicht mit dem geistigen Alter übereinstimmt, wie Frankenstein sie anhand einer Figur verhandelt, deren zartes liebesbedürftiges Inneres nicht mit der abstoßenden Physiognomie übereinstimmt.
Ich springe nun von den intertextuellen Beziehungen zwischen Poor Things und Frankenstein, die ich nur deshalb erwähne, weil Frasl sie nur flüchtig berührt, aber ein Argument daraus ableitet, zu ihren Hauptkritikpunkten: der Darstellung von Frauen, Sexualität, Empowerment und Befreiung. Was Frasl in ihrer Kritik unterschlägt, ist ihre einhellige Unterstützung einer spezifischen Ausprägung des westlichen Feminismus, die manchmal als „4. Welle“ bezeichnet wird, jedoch stark auf die „2. Welle“ der 1960er und 1970er Jahre zurückgeht. Es ist die „2. Welle“, mit der landläufig das Wort „Feminismus“ assoziiert wird, wenn abfällig über „radikale Emanzen“ geredet wird: Birkenstocktragende teetrinkende unrasierte Spielverderberinnen, die Männer hassen, Pornographie verbannen wollen und auf die Ungerechtigkeit der condicio feminina pochen.
Das ist das Schreckgespenst, vor dem man(n) warnt, wenn in Österreich am Land oder in den USA gewählt wird. Es ist eine durch und durch gemeine Vorstellung, die Simone de Beauvoir, Frigga Haug, Andrea Dworkin, Alice Schwarzer und den unzähligen Frauenrechtlerinnen, Gendertheoretikerinnen, Politikerinnen, Autorinnen und Wissenschaftlerinnen der 1960er und 1970er Jahre nicht gerecht wird. Kritik an dieser radikalfeministischen „2. Welle“ gibt es jedoch auch aus feministischen Kreisen: mit der „3. Welle“ der 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahre rückten Subversion, Selbstermächtigung und Sexpositivität wieder in den Fokus. In den „Porn Wars“ gerieten die jeweiligen Vertreterinnen aneinander. Mit Cixous’ écriture féminine, Butlers Gender Studies, Linda Williams’ Porn Studies, mit dem massenwirksamen Popfeminismus von Madonna und Beyoncé (der manchmal als neoliberales Pink-Washing bezeichnet wird, aber das ist eine andere Geschichte) hatten viele Feministinnen (mich eingeschlossen, das gebe ich zu) das Gefühl, wieder Kulturprodukte mit patriarchaler Entstehungsgeschichte oder Prägung konsumieren und schätzen zu dürfen, ohne „den Feminismus“ zu verraten. Das kann natürlich auch wieder übertrieben werden (s. o. zur Rehabilitierung von Werken problematischer Urheber~innen).
Seit #MeToo gerät die „3. Welle“ wieder in die Kritik (wie generell auch das „Wellen“-Modell, das unter anderem Francoise Verges als Merkmal eines singulär weißen Feminismus sieht). Die „4. Welle“ kehrt in vielen Punkten wieder zu den Positionen der 1960er Jahre zurück, bezieht aber auch Perspektiven aus bis dahin unterrepräsentierten Bereichen ein (Postcolonial Studies, Intersectionality, Queer Studies, etc.). Von dieser fruchtbaren Auseinandersetzung, dem Reevaluieren von Ideen und Konzepten, der Erweiterung des Feldes und der Pluralität von Meinungen lebt der feministische Diskurs (bzw. jeder ernsthaft geführte Diskurs). Manches wird verworfen, manches aktualisiert, manches wieder aufgegriffen, manches neu aufgerollt, manches komplett neu erschlossen; wir lernen dazu, müssen Übernommenes neu einordnen und uns in Interaktion mit anderen Feldern und Perspektiven weiterentwickeln. Das ist gut so.
Nicht so gut, und strategisch nicht konstruktiv, ist es, wenn die Diskussion oberflächlich geführt wird. Dann riskiert die Bewegung, sich in Grabenkämpfen zu verheddern, Skeptikern (und vielleicht Skeptikerinnen) auf die Nerven zu gehen und das Gespür für Nuancen und Ambivalenzen zu verlieren. Diese Gefahr sehe ich in Frasls Filmkritik. Sie kreidet dem Film an, dass er zu sehr „3. Welle“ ist, und dabei vor allem zu sexpositiv. Dass Frasls Kritik aus einem Ressentiment gegen die „3. Welle“ kommt, verrät erst der letzte Abschnitt der Rezension. Das Ressentiment durchzieht allerdings den ganzen Text. Emanzipation könne nicht über Sex stattfinden. Dass der Film Bellas sexuelle Exploration als Empowerment darstelle, sei daher falsch. Das ist eine legitime Position für eine Post-#MeToo-Radikalfeministin der 2. oder auch der 4. Welle. Sie sollte aber offengelegt werden, denn es ist eine starke Meinung und definitiv nicht die einzige feministische Meinung, die man allgemein und konkret in Bezug auf Poor Things beziehen kann. Es gibt „den Feminismus“ nicht. Es gibt Strömungen, Bewegungen, Meinungen, die manchmal zusammenhängen und manchmal divergieren, und eine Position als „richtig“ und die anderen als „falsch“ hinzustellen, ist ein gefährlicher ideologischer Kurzschluss.
Ja, Bella Baxter erlebt Sexualität als empowernd. Ja, sie arbeitet in einem Bordell und verteidigt ihre Arbeit gegenüber dem enttäuschten Duncan, der nach der Trennung zum prüden Sittenwächter mutiert, mit den Worten: „we are our own means of production“. Nein, viele Sexarbeiterinnen sehen ihre Arbeit nicht so positiv, und reale Bordelle bieten, wie die jüngsten Femizide in Wien traurig demonstriert haben, keinen geschützten femininen Raum, in dem Frauen, wie Bella und Toinette, ungezwungen über Sozialismus und finanzielle Unabhängigkeit diskutieren und die Freier mit ihren armseligen Wünschen und geknickten Egos ins Lächerliche gezogen werden.
Dass die Bordellszenen Frasl zu stark an die literarische Halbweltidealisierung erinnern und die bittere Realität außer Acht lassen, ist ein valider Punkt in ihrer Argumentation. Aber dass der Film keine 1:1-Abbildung der Realität ist, unterstreicht er durch fliegende Schiffe, transatlantische Seilbahnen und die vielen Hybridfabelwesen. In der Welt, die Lanthimos mit Poor Things erschafft, finden eine Entstigmatisierung von Sexarbeit und eine Normalisierung von weiblicher Sexualität und Selbstbefriedigung statt. Und das passiert dezidiert nicht auf Kosten der weiblichen Protagonistin, sondern auf Kosten der Männer, die ihre Weigerung, in ihrem ausgeprägten Sexualtrieb etwas Schamhaftes, Verwerfliches oder Krankes zu sehen, nicht verstehen wollen. Die Sexszenen sind nicht in problematischer Weise explizit: keine close-ups, keine meat shots, kein Sperma im Gesicht der Frau, keine Vergewaltigungen und Misshandlungen. Bella genießt nicht jede sexuelle Interaktion: der Film markiert klar, dass es sexuelle Begegnungen gibt, die ihr zusagen, und andere, die sie nicht gut findet. Hat sie Orgasmen, viele davon mit sich selbst, sehen wir ihr Gesicht, nicht ihre Genitalien und schon gar keine Ejakulation eines beteiligten Mannes.
Der Film spielt mit der zu erwartenden Erwartungshaltung eines Arthouse-Indie-Publikums, dem bewusst ist, dass weibliche Sexualität auf der Leinwand fast immer nur durch den Male Gaze stattfinden kann. Der Male Gaze ist nach Laura Mulvey eine Projektion, mit der von Menschen geschaffene Kunstwerke konfrontiert werden. Lanthimos’ Bella personifiziert so ein menschengemachtes Kunstwerk, spielt mit, wenn es ihr passt, und legt die kulturelle Folie ab, wenn es ihr nicht mehr passt. Das kann man unrealistisch oder allzu optimistisch finden. Aber es ist widerständig, und man kann es auch als gesunde Handlungsdirektive verstehen: wir sehen eine weiblich zu lesende Figur, die uns zeigt, wie sie mit patriarchalen Projektionen umgeht und diese letztlich zu ihrem Vorteil uminterpretiert, subvertiert und somit überwindet.
Eine Szene im ersten Drittel des Films demonstriert diesen Ansatz gut. Bella muss an einem Diner teilnehmen, das Essen schmeckt ihr nicht, die Gesellschaft langweilt sie, sie wird ungeduldig und verhält sich zunehmend unpassend. Ihr Begleiter, der sich für ihr Benehmen geniert, weist sie zurecht und schreibt ihr vor, den restlichen Abend hindurch nur noch zu lächeln und „how delightful“ und „how do they get these breadrolls so crisp?“ zu sagen, um ihn nicht noch mehr zu blamieren. Bella befolgt diese absolut chauvinistische Regel – und sagt „how delightful“, als bei Tisch über einen Todesfall geredet wird. Das ist Subversion à la „3. Welle“ par excellence.
Wie viele Minuten im Film Frauen unter sich über Themen reden, die nichts mit Männern oder Schönheit zu tun haben, habe ich nicht nachgemessen. Ich stimme Frasl jedoch nicht zu, dass Bellas Beziehungen zu Frauen entweder flach oder erotisiert bleiben – es sei denn, die erotische Männerfantasie umfasst Frauen, die gemeinsam zu sozialistischen Veranstaltungen und in den Seziersaal gehen, über gesellschaftliche Zwänge lästern, Tipps zur Selbstbefriedigung austauschen. Politisches Engagement, medizinisches Interesse, sexuelle Selbstbestimmtheit und generationenübergreifende Freundschaften als feuchter Traum eines voyeuristischen Publikums? Darauf würde ich mit Bella, Toinette und Martha einen Gin trinken.
Frasl bemängelt, dass Bella nicht traumatisiert, verwundet oder krank aus ihren sexuellen Erlebnissen hervorgeht. Verschiedene Filme kommen hier zu unterschiedlichen Lösungen: es gibt kaputte Kokserinnen (wie in Tangerine), erbitterte Rächerinnen (wie in Revenge), loyale Kleinkriminelle (wie in Hustlers), Opfer, die selbst zu Täterinnen werden (wie in Pleasure oder, angedeutet, in Joy), Zwangssexarbeiterinnen, denen der Ausbruch nie gelingt (wie in Joy). Es gibt Filme, die Sexarbeit gar nicht thematisieren, Filme, die bestimmte Formen von Sexarbeit kritisch oder dokumentarisch beleuchten, und es gibt Filme, die die Arbeit als Escort als Abenteuer darstellen. Das Thema ist groß: es braucht ein Spektrum von Perspektiven, es braucht verschiedene Darstellungen in verschiedenen Genres, und die Darstellung von weiblicher Sexualität darf nicht der Mainstream-Pornoindustrie überlassen werden. Lanthimos’ fantastisch-surrealer Arthouse-Sci-Fi-Film präsentiert eine sexuell aktive Hauptfigur, die sich nicht brechen lässt.
Damit kann sie eine Role-Model-Funktion erfüllen: wer mit der Überzeugung aufwächst, dass Sex, Masturbation und Sexarbeit unschicklich, gefährlich, unmoralisch, antifeministisch sind, kann diesen Zugang erfrischend finden. Diese Interpretation schlichtweg als falsch zu verurteilen, zeugt von einseitiger Intoleranz. Feminismus hat viele Gesichter. Frasl erlaubt nur eines.
Dass Bella keine leidende Frauenfigur ist, stört Frasl. Dass Bella normschön bleibt, stört sie auch: keine Körperbehaarung, keine Menstruation, keine pubertäre Dysphorie – also habe Bella keinen Anteil an typisch weiblichen Erfahrungen. Abgesehen davon, dass die Universalität dieser „weiblichen Erfahrungen“ stark angezweifelt werden kann und nicht alle Mädchen ihre Pubertät auf dieselbe Art erleben und wahrnehmen, ergibt es im Film Sinn, dass Bella diese Entwicklung nicht durchläuft: sie ist kein „normales“ Mädchen, sondern ein künstlich geschaffener Mensch, ein Kind im Körper einer Erwachsenen, ein Hybrid aus zwei Personen. Warum sollte in dieser Märchenfiktion ihr Körper so funktionieren wie der von „echten Frauen“? Dann gäbe es sie gar nicht: Transplant Fiction ist eben Fiktion.
Als Identifikationsfigur für junge Zuschauerinnen, die ihre Sexualität selbstbestimmt und schambefreit entdecken wollen, eignet sich Bella ohne Menstruation, Behaarung und Körperkomplexe besser als mit, denn sie vermittelt damit: das ist eine coole Frau, die sich nicht einordnen lässt; sie ist nicht wie du und ich, aber sie macht ihr Ding; sie wird mit männlichen Erwartungen konfrontiert, wie das bei vielen Frauen* der Fall ist, und zeigt einen (nicht den einzigen) Weg auf, wie man diese Projektionen loswird, ohne darunter zu zerbrechen.
Damit zum nächsten Punkt, den Frasl (und viele andere) heftig kritisieren: Pädophilie und Consent. Bella werde sexualisiert, obwohl sie noch ein Kind sei. Im Film und durch den Film werde das dargestellte Kind missbraucht. Sie könne noch keine ganzen Sätze sprechen, aber masturbiere schon. Letzteres möge Frasl bei Freud nachlesen: Kinder masturbieren, lange bevor sie verstehen, was das bedeutet. Dass die Darstellung kindlicher Masturbation noch immer als Skandalon bezeichnet wird, würde Freud vielleicht amüsieren, ist aber eigentlich erschütternd. Bella ist aber nicht einfach ein Kind; ihr Körper ist der einer geschlechtsreifen Frau. Ihr Alter ist nicht greifbar; es stimmt vorne und hinten nicht: sie steht also, dem Sci-Fi-Genre gemäß, außerhalb aller Prozesse, die man als natürlich, biologisch oder normal bezeichnen könnte. Ihre sexuelle Neugier ist ein Irritationsmoment, im Film und außerhalb.
Das muss nicht allen gefallen, aber es ist nicht per se problematisch. Dass Bellas erwachsener Körper erotisches Begehren von Männern auf sich zieht, obwohl ihr Gehirn noch das eines Kindes ist, ist die Umkehrung pädophil-pornographischer Darstellungen, in denen zwar volljährige, aber kindlich gestylte Darstellerinnen in Schuluniform ältere Männer befriedigen. Mainstream-Porno bedient pädophile Fantasien; Poor Things dreht sie um: Bella ist ein Kind, sieht aber aus wie eine Erwachsene, und was ihren Umgang mit Sexualität betrifft, ist sie reifer als so manche Erwachsene. Natürlich lädt der Film dazu ein, sich genau mit diesen Fragen zu beschäftigen: natürlich denkt das Publikum darüber nach, ob das jetzt „noch ok“ oder „schon krank“ ist, ob die Männer im Film als pädophil verstanden werden können, ob Bella jetzt zum willenlosen Sexpüppchen wird oder der Film noch die Kurve kratzt. Schwierige Fragen aufzuwerfen und zum Nachdenken anzuregen, ist die Aufgabe von Programmkino. Plakative Antworten und Pauschalisierungen gibt es da nicht.
Der verwunderlichste Satz in Frasls Rezension ist: „Noch nie habe ich einen Film gesehen, aus dem mir mit einer solchen Penetranz die Gewissheit entgegensprang, dass jede Zeile von einem Mann geschrieben wurde.“ Hat Frasl schon einmal einen Hollywoodfilm gesehen? Eine Rom Com? Einen Action-Kriegsfilm? Es gibt so, so viele Filme, die feministisch verrissen werden müssten. Es gibt so viele problematische Darstellungen von schwierigen Themen. Es gibt so viele unemanzipierte Frauenfiguren, unrealistische Schönheitsideale, ungesunde Romantikideale. Es gibt so viel Ungerechtigkeit in der Filmbranche. Es gibt so viele Missbrauchsfälle auf und hinter der Leinwand. Es gibt so viel Müll, der von Männern (und manchmal auch von Frauen) geschrieben und teuer produziert und groß vermarktet wird. Ich kann nicht glauben, dass Beatrice Frasl noch nie einen penetrant maskulinistischen Film gesehen hat. Das ist einfach nicht möglich. Aber vielleicht ist es leichter, etwas zu kritisieren, das keine 100% erreicht, als etwas, das 0% erreicht.