Eine Oper für die ‘Vielzuvielen’
Eines der größten Skandalwerke der Operngeschichte ist aktueller denn je: Die Komische Oper Berlin spielt Henzes Das Floß der Medusa auf dem Flughafen Tempelhof.
Niemand (na gut, ca. 0,1% d. Bev.): Wie geht relevantes, bewegendes Musiktheater?
Komische Oper: Ja.
Damit wäre diese Kritik eigentlich auch schon gegessen, ich habe aber Erbarmen (oder eben keins) mit euch und erzähle noch ein wenig. Ein Skandalwerk aus dem Revolutionsjahr 1968 auf dem Flughafen Tempelhof, inszeniert von dem Tobias Kratzer, dessen Bayreuther Tannhäuser eins der wenigen allseits gelobten Inszenierungen der letzten Jahre ist: Henzes Das Floß der Medusa ging ein Feuerwerk an Erwartungen voraus. Und auch ein echtes, auf der anderen Seite des einstigen Naziflughafens, während das schicke Berliner Publikum in die Ersatzspielstädte der Komischen Oper strömte.
Das Stück erinnerte mich ein wenig an manche Janáček-Opern, indem es so politisch, brisant und aktuell ist, dass allzu wilde Regiekonzepte fast nur schwächen anrichten könnten. Kratzer fand jedenfalls einen gelungenen Zwischenweg zwischen ‚werktreuem‘ Realismus und Abstraktion. Die gesamte Bühne war ein Pool, darin schwamm tatsächlich ein Floß, auf dem die ‚Vielzuvielen‘, also die über 150 Schiffsbrüchigen einer französischen Fregatte ums Überleben kämpften, die keinen Platz in den Rettungsboten bekamen. Die wahre Geschichte erzählt eine Katastrophe aus 1816, die ganz gut als Sinnbild für die Probleme der Gesellschaft von damals und heute funktioniert. Wie in den Lockdowns, als wir ‘Vielzuviele‘ in unseren engen Wohnungen ausharrten, während die Superreichen auf Tropeninseln zusahen, wie sich ihr Vermögen trotz der Krise vermehrte, ließen die adligen Offiziere die Besatzung der vor Afrika gestrandeten Fregatte auch zurück. Wenn in Zukunft die Ressourcen noch knapper werden, wird das sicher ähnlich sein, nur schlimmer. Klassenkampf ist ein plakativer, abgenutzter Begriff, dieser Abend erinnerte aber daran, dass das Prinzip dahinter leider nur zu real ist.
Fieber, Durst, Tod
Henzes ausdrucksstarke Zwölftonmusik klang mit Fortdauer des Abends immer fiebriger, während die Menschen auf dem Floß verdursteten, ertranken, von der Sonne verbrannt wurden und sich abmetzelten. Dem personifizierten Tod (toll gespielt von Gloria Rehm) entgingen nur eine Handvoll Überlebende, die nach etlichen Tagen von einem Schiff gerettet wurden.
Henze solidarisierte sich mit der Studentenbewegung von 1968, widmete das Stück sogar dem kurz zuvor erschossenen Che Guevara. Dafür stand er in der Kritik, nicht zuletzt, da er gleichzeitig wie ein Feudalherr in einer Villa neben Rom residierte. Zum eigentlichen Skandal um die Uraufführung in Hamburg kam es aber wegen Protesten der linken Studierenden. Denen war nicht Henze oder das Stück ein Dorn im Auge, sondern das gutbürgerliche Publikum, das aus ihrer Sicht die wichtigen Themen des Oratoriums in Sakko und Stöckelschüchen zur Unterhaltung degradierte. Ein Che-Guevara-Porträt und eine rote Fahne führten zu einem Tumult im Publikum, die Polizei griff massiv ein und die Uraufführung wurde abgesagt. Eine absolute Seltenheit in der Operngeschichte.
Hat die klassische bzw. Neue Musik heutzutage Figuren wie Henze oder auch der legendäre Pianist Pollini mit seinen Arbeiter*innenkonzerten in der Scala? Menschen, die Reichweite und ein Glauben an Veränderung haben, daneben, dass sie exzellent musizieren? Vladimir Jurowski hat letztens in Luzern zwei jungen Klimaprotestierenden mitten im Konzert trotz ihrer Störaktion das Wort gegeben, gegen den Widerstand des Publikums. Das war ein Lichtblick. Mehr Aufmerksamkeit bekommt aber der Auftritt Anna Netrebkos in der Staatsoper unter den Linden, über den Protest dagegen berichteten auch internationale Medien.
Premieren wie diese in der Komischen Oper geben aber auch Hoffnung (auch wenn das Publikum zumindest optisch dem ähnelt, gegen das die Studierenden vor 55 Jahren nicht ohne Grund aufbegehrten). Auch sonst bleibt die Klassikszene der deutschen Hauptstadt die wohl spannendste überhaupt: Joana Mallwitz bringt als neue Konzerthaus-Chefdirigentin mit neuen Formaten frischen Wind, unter den Linden verkündet wahrscheinlich in Kürze mit Christian Thielemann ein musikalisches Schwergewicht als neuen Musikdirektor und die Berliner Philharmoniker haben über ihren Wiener Kolleg*innen weiterhin den Vorteil, nicht nur musikalisch Weltklasse zu sein, sondern dank ihres engagierten Chefdirigenten Kirill Petrenko auch ein spannendes künstlerisches Profil zu haben. Nix wie hin…