Fallende Blätter - Wahre Liebe, karge Welt
Ich bin deprimiert. Warum? Weil ich so viel trinke. Warum trinkst du dann? Weil ich deprimiert bin. Ein Zirkelschluss. Was ist das? Vergiss es.
Die Figuren, die Aki Kaurismäkis Filme bevölkern, sprechen nicht viel. Sie gehen irgendeinem Job nach, Hafenarbeiter, Bauarbeiter, Kellner, Kassierer – Arbeit bedeutet viel, sie ist existenznotwendig, selten -stiftend, zudem unbeständig, hinter jeder Ecke lauert die Kündigung, die Insolvenz des Arbeitgebers. Nach der Arbeit geht es meist in die Kneipe, wo sich angeschwiegen wird, ab und zu vielleicht ein wenig Galgenhumor ausgetauscht. Bier und Schnaps fließen jedenfalls in rauen Mengen, aus der Jukebox oder von irgendeiner verramschten Kneipenbühne tönt Musik, meist finnisch, selten sonderlich neu, fast immer sehnsüchtig.
Die Kaurismäki-Figur ist eine, die der Vergangenheit nachhängt und sie gleichzeitig, weniger schwelgerisch formuliert, stoisch in die Gegenwart einzubringen vermag, die Zeiten in sich vereint. Über die Lederjacke, männliche Quasi-Uniform in Kaurismäkis Filmen, schreibt Harun Farocki, sie drücke aus, dass sich jemand „eine Sehnsucht bewahrt hat.“¹
Nostalgisch sind diese Figuren, gleichzeitig Träumer, Romantiker und Realisten, weil sie keine andere Wahl haben, als zu arbeiten, um zu überleben, mal legal, mal illegal, oft mit Ausgang im Krankenhaus oder Gefängnis. Melancholisch sind sie allemal, daher der Alkohol, oder andersherum, wie Kaurismäki es selbst einmal gesagt hat: „Wer melancholisch ist, der säuft. Wer säuft, wird melancholisch. Am Ende säuft man, oder man hört irgendwann auf zu sprechen“². Seine Figuren schaffen beides, saufen und nicht sprechen, zumindest nicht mit vielen Worten, dafür mit Blicken, Gesten. Wenn sich Holappa und Ansa, um die es in Fallende Blätter geht, ineinander verlieben, muss nicht gesprochen werden, es reichen ein paar Blicke, ein paar Einstellungen, Schuss, Gegenschuss, dazu ein Ständchen von Schubert in der Karaoke-Bar-Version, da ist bis in die letzte Kinoreihe jedem klar, was los ist. Man verguckt sich ineinander.
Präzisionsinstrumente
Holappa und Ansa jedenfalls sind Kaurismäki-Figuren, wie sie im Buche stehen. Er ist zunächst Industriearbeiter, sie arbeitet im Supermarkt. Er säuft, sie nicht. Individuen sind sie, als Modelle verkörpert, wie Kaurismäkis Säulenheiliger Robert Bresson, sie beschrieb: „Modelle: Bewegung von außen nach innen. (Schauspieler: Bewegung von innen nach außen)“³. Psychologisierung sucht man in Fallende Blätter vergeblich.
Überhaupt: blättert man durch Bressons Notizen zum Kinematographen, könnte man sie für eine Anleitung zum Kaurismäki-Filmemachen halten, vermutlich ist das gar nicht so falsch. „Wenn eine Geige genügt, nicht zwei verwenden“⁴ etwa, oder: „Die Präzision kontrollieren. Selbst ein Präzisionsinstrument werden“⁵. Schön sind die Bilder in Fallende Blätter gelegentlich, präzise eigentlich immer. Kaurismäkis Lieblingssetting sind nach Eigenaussage zwei Menschen vor einer blaugrauen Wand, die sich unterhalten.
Eine sonderlich nennenswerte Handlung gibt es nicht in Fallende Blätter, eben diese zwei Figuren, die ihrem Alltag nachgehen, sich irgendwann finden, wieder verlieren, wieder finden. Reicht.
Dort und hier, dann und jetzt
Dabei ist die angesprochene Vereinigung der Zeiten in Kaurismäkis neuem Film besonders ersichtlich – und besonders aktuell. Immer wieder drängt sich da der Ukraine-Krieg in die Tonspur, eigentlich jedes Mal, wenn eine der Figuren das Radio anschaltet ist die Rede von Mariupol, von Verletzten und Toten. Das Radio wird dann abgedreht, der Stecker gezogen oder der Sender gewechselt, bis der gewünschte finnische Schlager ertönt. Auch der ist nicht gerade optimistisch: als Ansa in der ersten vieler Küchentisch-Radio-Szenen die Frequenz ändert, singt eine Männerstimme über Babys, die ihm den Schlaf rauben.
Harter Schnitt, Holappa bei der Arbeit, die lauten Maschinengeräusche nehmen dem Schlager die Luft. Auch von diesem Weitermachen trotz des Krieges erzählt der Film, von der Gleichzeitigkeit von Ausnahmezustand anderswo und Alltag im hier und jetzt, nicht nur Verschmelzung der Zeiten, auch Überlappen der Orte. Ausblenden lässt sich das Weltgeschehen bei allem Senderwechseln schließlich nicht, es bleibt immer präsent, ein Rauschen im Hintergrund. Aus Ansa platzt es – bei einer Art erstem Date zwischen den beiden will sie Musik anmachen, aus dem Radio kommt nichts als Ukraine – schließlich heraus: „Verdammter Krieg!“ Eine legitime Reaktion.
Solidarität
Nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs ist die Welt, in der Fallende Blätter spielt, keine sonderlich rosige. Die Arbeit ist prekär, die Stadt – vermehrt werden Bilder von Baustellen zwischengeschnitten – im Wandel, nicht unbedingt zum Positiven. Noch einmal Kaurismäki: „Der Fortschritt – das schlimmste Wort, das ich kenne – vom medizinischen Fortschritt einmal abgesehen. Man hätte die Welt gegen Ende der 50er Jahre anhalten sollen“. Folgerichtig sind die Kinoplakate, die in Fallende Blätter zu sehen sind, von Godard, John Huston oder eben Bresson. Ansa und Holappa schauen sich dann aber doch einen neuen Film an, The Dead don’t Die von Jim Jarmusch (einmal noch: „Jarmusch ist ebenfalls sehr präzise. Aber eine furchtbare Schnecke, noch langsamer als ich“⁶). Überhaupt ist Kaurismäkis neuer Film nicht etwa misanthropisch oder rückwärtsgewandt: es gibt da die Momente der Wärme.
Am offensichtlichsten in den zugleich zart und übermannend inszenierten Liebesszenen, die Anleihen an Douglas Sirk und Fassbinder erkennen lassen, darüber hinaus jedoch auch in einer Art totgeglaubtem Klassenbewusstsein. Wenn Ansa im Supermarkt gefeuert wird – sie hat ein abgelaufenes Sandwich mitgehen lassen – springen ihr sofort zwei Arbeitskolleginnen zur Seite und kündigen. Die drei gehen, wenngleich joblos, als Siegerinnen aus der Szene, Kaurismäki hält weiter drauf, zeigt, wie Filialleiter und verpetzender Sicherheitsmann verdattert dastehen, aus dem Bild gehen, das nun nur noch einen Tisch zeigt, auf dem ganz klein das ‚Diebesgut‘ liegt, eine kleine Nichtigkeit, die die Lächerlichkeit der Situation endgültig offenbart. Diese Hoffnungsmomente, die Wärme, wirken aufblitzend in der kärgliche Welt des Films wie wohltuende Sternschnuppen und, blödes Wort: ungemein menschlich.
Quellen
¹ Farocki, Harun, “Somewhere over the Rainbow: ARIEL”, in: Aki Kaurismäki, hg. v. Ralph Eue und Linda Söffker, Berlin: Bertz und Fischer 2006.
² Stecher, Thorsten, “Ich glaube an Bäume, nicht an Gott".”, in: Die Weltwoche, 12.09.2002.
³ Bresson, Robert, Notizen zum Kinematograpen, Berlin: Alexander Verlag 2013 (1975).
⁴ ebd.
⁵ ebd.
⁶ Stecher, Thorsten, “Ich glaube an Bäume, nicht an Gott".”, in: Die Weltwoche, 12.09.2002.