Hungerspiele im Reality TV
Zum neuen “Hunger Games"-Film, moralischen Ambivalenzen und der Frage, wie weit wir selbst von solchen Spielen entfernt sind.
Es ist der Tag der Tributauslosung der zehnten Hungerspiele. Coriolanus Snow ist Student der Akademie des Kapitols und aufgrund des Kriegs mit den Distrikten in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Um sein weiteres Studium zu finanzieren, muss er den begehrten Plinth-Preis erhalten, um welchen er mit 23 anderen vielversprechenden Studierenden kämpft. Allerdings nicht IN der bekannten Tribute-von-Panem-Arena. Deren System und Umfeld sind hier kaum wiederzuerkennen. Als Austragungsort der Spiele dient ein heruntergekommenes Stadion, in dem es nichts außer ein paar Waffen gibt. Das Publikum fehlt, es soll um jeden Preis wieder angelockt werden.
Dieser Publikumsschwund wirft die Frage auf: Was muss getan werden, um ausreichend Publikum zu generieren? Sicherlich auch eine relevante Frage für reale Medienschaffende. Panems Lösung: die Tribute bekommen Mentor*innen an ihre Seite gestellt, die sie auf den Kampf vorbereiten und zu medialen Sympathieträger*innen formen. In Ansätzen lässt sich somit erkennen, wohin sich die Hungerspiele entwickeln werden. Doch nicht nur diese bekommen einen Auftritt in jüngerer Form.
Der Fokus von The Ballad of Songbirds and Snakes liegt nämlich auf Coriolanus Snow, welcher als Präsident Panems und Bösewicht der Hunger Games-Reihe bekannt ist. Hier nimmt er, in jungen Jahren, die Rolle des Protagonisten ein. Trotz der zeitlichen Distanz wird so eine direkte Verbindung zur bestehenden Reihe aufgebaut. Wir begleiten Snow durch die Ereignisse rund um die zehnten Hungerspiele, erfahren, wie ihn der Krieg und das in diesem Film Gesehene zu dem Menschen formen, den wir kennen. Leerstellen schaffen den Zuschauenden dabei Freiraum, die weitere Entwicklung seines Charakters, als auch die der Hungerspiele, selbst aufzufüllen, weiterzuspinnen.
Kostümierte Ambivalenzen
Den späteren Antagonisten zur Hauptfigur zu machen, bewirkt auch ein Verwischen der klaren Grenzen zwischen Gut und Böse. Die Figuren in Panem sind ambivalent: Coriolanus ist charmant, kümmert sich um seine Familie und Freunde, dennoch handelt er bewusst unmoralisch, weil er Profit daraus ziehen kann. Seine Tributin, Lucy Gray Baird, ist freundlich, liebenswert, hilfsbereit, doch in der Arena sorgt auch sie für Leichen.
Feine Unterschiede zwischen den Figuren manifestieren sich im Kostüm: die Menschen aus den Distrikten tragen schäbige Kleidung in bräunlichen Farbtönen, die helleren Farben des Kapitols stehen wiederum den grauen Uniformen der Friedenswachen gegenüber. Einzig Lucy Gray sticht in ihrem regenbogenfarbenen Kleid hervor, sie – ehemalige Wandermusikerin - scheint sich überall anpassen zu können. Besonders gelungen sind die Schuluniformen der Akademie, welche für alle Geschlechter genau gleich geschnitten sind: Roter Rock über roter Hose, rotes Jackett über grauem Hemd. Einerseits, weil sie durch den Unisex-Schnitt Gleichheit vermitteln, andererseits lassen sie sich als Propagandamittel des Kapitols verstehen.
Durch die Uniformen wird eine einheitliche Gruppe gebildet, welche sich in Folge von den Distrikten abgrenzt und dadurch eine Klassendifferenz erzeugt, die gerade im Aufeinandertreffen der beiden Welten sichtbar wird.
Ist doch alles fiktional?
Bei diesem Aufeinandertreffen wird klar, dass Moral im Kapitol ein Fremdwort zu sein scheint. Alles Machbare wird umgesetzt, als Kriegsgewinnende scheint ihnen das zuzustehen. Dies spiegelt sich besonders im Konzept der Hungerspiele als Fernsehunterhaltung wider. Die rebellischen Distrikte sollen für ihr Auflehnen gegen das Kapitol bestraft werden. Kinder, die selbst nicht in diesen Konflikt verwickelt waren, die unvorbereitet, unnötig und unschuldig sterben, oder mit einem Trauma nach der Arena leben müssen, sind die Leidtragenden. Dies scheint weder eine gerechte Strafe noch moralisch vertretbar zu sein, doch die Mehrheit der Bevölkerung schweigt und/oder sieht zu. Im Hinblick auf die aktuelle Fernsehunterhaltung trifft diese Verfilmung den Nerv der Zeit.
Während in Panem Kinder in den Tod geschickt werden, so sieht man auf unseren Fernsehbildschirmen Möchtegern-Celebritys in überwachten Häusern, Dschungelcamps und co., die darum kämpfen, ‚als Letzte*r übrigzubleiben‘. Hierfür benötigen sie die Unterstützung der Zusehenden, welche anrufen und ihre Favorit*innen unterstützen sollen. Ein sehr ähnliches Prinzip wird in The Ballad of Songbirds and Snakes ausprobiert, um die Spiele beliebter zu machen, die vorherigen (nach Ballad spielenden) Filme bestätigen den Erfolg dessen. Die Vielzahl an ähnlichen Reality Shows auf Streamingdiensten und Fernsehsendern zeigt, dass wir Menschen uns so ziemlich Alles ansehen, solange wir mit Personen mitfiebern und diese unterstützen können.
So harmlos diese Sendungen im Vergleich auch wirken mögen, sehr weit entfernt von realen Hungerspielen sind wir gar nicht mehr, wie zuletzt die Netflix Serie Squid Game – The Challenge zeigt. In dieser spielen (angelehnt an die fiktionale Serie Squid Game) die Kandidat*innen gegeneinander Kinderspiele, in der Hoffnung auf den Gewinn eines Geldpreises. Im Gegensatz zu den Hungerspielen sterben die ausscheidenden Kandidat*innen zwar nicht, der schonungslose Umgang bleibt dennoch und scheint eng ans Erfolgskonzept geknüpft.
Und die Moral von der Geschicht‘…?
Moral scheint also weder die Menschen im Kapitol noch jene unserer westlichen Welt zu interessieren. Mitfiebern mit den Teilnehmenden und ein daraus resultierendes Gefühl der Selbstverwirklichung scheinen zu genügen, um zu unterhalten, meint der Kritiker Phil Harrison.[2] In der Machtposition bleibt die Sendeanstalt, so, werden dem Publikum nur bestimmte Kameraeinstellungen zugänglich gemacht, sowie für eine gewisse Zeit sogar die Kameras ausgeschaltet. Große Zuseher*innenzahlen wie Fortsetzungen, sprechen in beiden Fällen für sich.
Ob die übertragenen Inhalte moralisch vertretbar sind, muss wohl jede Person selbst entscheiden, denn ob ‘real’ oder nicht, es wird mit Menschenleben bzw. -leiden gespielt, zur Fernsehauswertung ausgewählt und aufpoliert. The Ballad of Songbirds and Snakes deutet dieses Problem an, durch die detaillierte Übertragung der Hungerspiele reiht der Film sich gleichzeitig jedoch auch in die Riege der Reality Shows ein. Auch hier werden Zusehende zum Mitfiebern im Todeskampf animiert, besonders – natürlich – mit der Protagonistin.
Dadurch wird bewusst, wie leicht es fällt von diesem kompetitiven Format eingenommen zu werden und sich unterhalten zu lassen, moralische Prinzipien über Bord zu werfen. Diese Ambiguität kann den Unterhaltungsfaktor legitimieren, wir wissen schließlich, dass das Gesehene nicht ‚real‘ ist. Das lässt sich auch auf Reality TV Formate umlegen. Durch das (von uns Zuschauenden vorausgesetzte) Wissen über Konsens und Gehalt der Teilnehmenden verwischen moralische Bedenken leicht. Vielleicht hilft The Ballad of Songbird – gerade wegen der moralischen Ambivalenz – hier, das genauere Hinschauen zu lehren.