Lass ihn kreuzigen!

Bald ist Ostern. Was die Musik betrifft, kann dies nur eines bedeuten: Es ist wieder Zeit für die Matthäuspassion. In diesem Fall mit Philippe Herreweghe und seinem Collegium Vocale Gent.

Schrullig, liebenswürdig und großartig: Philippe Herreweghe /// Wikimedia (c)

91 Mal wurde Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, BWV 244, bereits im Konzerthaus gegeben. Am Donnerstag kam mit der Interpretation von Philippe Herreweghe und seinem Collegium Vocale Gent eine weitere Wiedergabe hinzu, die – das lässt sich, ohne mit der Wimper zu zucken sagen – zu den besten überhaupt zählt. Bach komponiert das Monumentalwerk vor fast 300 Jahren, an Beliebtheit hat es seither kaum eingebüßt. Dies lässt sich auch anhand der vom Publikum mitgebrachten Partituren messen: Sieht man bei einem gewöhnlichen Orchesterkonzert vielleicht eine*n Musikfanatiker*in eine Partitur mitbringen, wird hier die Musik beinahe in jeder zweiten Reihe aufmerksam in einem Klavierauszug oder einer Taschenpartitur verfolgt.

Dirigat nach Kodex

Bereits beim Stimmprozedere erfassen die tiefen Frequenzen das Publikum. Die historischen Streichinstrumente stimmen jede Saite einzeln mit dem Orgelpositiv ab, die Wirbel knacken und vereinzelt ist schon das charakteristische Kratzen einer Darmsaite hörbar. Dann betritt Philippe Herreweghe im weiten, schwarzen Gewand die Bühne und zeigt, dass die 91 Aufführungen im Konzerthaus ein Klacks sind und er die Passion aller Passionen schon mehr als doppelt so viele Male dirigiert hat: Die Partitur, die er unter dem Arm trägt, ein altes Buch, schon fast ein Kodex, strotzt vor Gebrauchsspuren.

Herreweghe, dessen verwackelter Dirigierstil bei romantischen Werken nur schwer lesbar, geschweige denn anzuschauen ist, stellt sich spürbar in den Dienst der Musik, ebenso die Musizierenden, ausnahmslos. Mit kleinsten Handbewegungen hält er die Fäden des ihm in- und auswendig bekannten Werks zusammen und geleitet Instrumentalist*innen, Vokalist*innen und das Publikum durch drei Stunden Musik, wofür er hin und wieder auch sein Podest verlässt und auf die Musiker*innen zugeht. Die in zwei Orchester und zwei Chöre aufgeteilten Musizierenden verschmelzen zu einem homogenen Klangkörper und produzieren eine beeindruckende Klangfarbenpalette – von zart und schummrig bis kernig und brutal. Stets suchen sie Blickkontakt untereinander, pulsieren gemeinsam, als ob sie ein gigantisches Instrument wären – so, wie es nur in der Alten Musik erlebt werden kann.

Solist*innen-Riege höchster Klasse

Als Evangelist überzeugt der belgische Tenor Reinoud van Mechelen, der die umfangreichen Textpartien maximal ausgestaltet. Seine Diktion ist dermassen präzis und deutlich, dass man auch jedes noch so altdeutsche Wort genauestens versteht. Diejenige von Bariton und mdw-Professor Florian Boesch, der den Jesus singt, hingegen etwas weniger, was auch mit der tieferen und somit von Natur aus undeutlicheren, weil weniger tragfähigen Stimmlage zusammenhängt. Nichtsdestotrotz überzeugt er mit vollem Stimmeinsatz, mal mit feinem und warmem Timbre, mal richtiggehend erschütternd.

Auch die restlichen Solist*innen beeindrucken mit Variantenreichtum und Virtuosität. In diesem Zuge erwähnenswert sind etwa die Sopranistin Dorothee Mields, der Altist/Countertenor James Hall sowie die Bässe Peter Kooij, Tobias Berndt und Philipp Kaven. Einzig die zwei Tenöre Samuel Boden und Guy Cutting fallen aufgrund des exzeptionellen Niveaus der anderen Solist*innen etwas ab.

Nicht von dieser Welt

Der umwerfendste Solist des Abends ist jedoch der Altist/Countertenor Tim Mead. Er gilt als „einer der exzellentesten Countertenöre seiner Generation“, was er unmissverständlich unter Beweis stellt. Seine Stimmbeherrschung und -ausgestaltung in Arien wie Erbarme dich (auf die wohl jede*r im Publikum heimlich gewartet hat) scheinen nicht von dieser Welt zu sein, was am Schluss mit frenetischem Applaus des ansonsten ruhigen und ergriffenen Publikums bejubelt wird.

Nicht zu vergessen: das Orchester. Genial ausgewogen sowohl im Gesamtklang als auch in Kleinformationen, etwa wenn sich einzelne Instrumente solistisch hervortun – die zwei Soloviolinen als Gegenpart zu den Gesangstimmen, die Basso continuo-Gruppe als vielseitiges Grundgerüst, sowie die Gambe, die Traversflöte und die Oboe da caccia als klangfarbliche Leckerbissen. Und dann ist die 92. Wiedergabe der Matthäuspassion im Konzerthaus Geschichte. Bewegt, erfüllt und beeindruckt verlässt das Publikum den Saal im Wissen: Ostern kann kommen!

Previous
Previous

Ein Sprung in Hockneys Pool

Next
Next

Zwischen Western, Salon und Einrichtungshaus