Lebenslust statt Totentanz
Tränen, Staunen und himmlische Musik bei der Eröffnung der diesjährigen Festwochen mit Romeo Castelluccis Requiem-Inszenierung.
In Europa herrscht Krieg, in der Welt tobt Cov19 (in ‘22...), in Wien schneit es im April: Was kann da ein alternder Skandalregisseur noch Beeindruckendes bieten? Uff, jede Menge... Romeo Castelluccis 12. Festwochenproduktion eröffnete die diesjährige Ausgabe mit einem Knall. Seine Inszenierung von Mozarts Requiem entstand zwar schon 2019 für das Festival d’Aix, heute ist sie aber aktueller, denn je.
Schon von den ersten Minuten war ich seltsam ergriffen: Man sah eine alte Frau in ihrem Schlafzimmer, die sich zu einem einstimmigen gregorianischen Choral aus dem Off hinlegte. Starb sie? Womöglich. Es erschien der phänomenale Pygmalion-Chor und sang Mozarts frühe Kyrie KV 90. Erst jetzt begann das Requiem mit dem Introitus. Ich surfte auf einer gigantischen Chill-Welle, während auf die Rückwand Namen von ausgestorbenen Tierarten projiziert wurden. Die Namensprojektion blieb eine Konstante in der Inszenierung, später waren es ausgestorbene Sprachen, Religionen, zerstörte Städte, Gebäude usw.
Kannst du deinen Namen tanzen?
Hauptakteur auf der Bühne war der Chor, der angereichert mit Profitänzer*innen immer wieder beim Singen (!) tanzte. Evelin Facchinis Choreografie rundtanzlastige Choreo erinnerte mit all den kollektiven Armbewegungen an namentanzende Waldorfleute. Falls du je eine gut gemachte Eurythmieproduktion erlebt hast, weißt du, dass das keineswegs negativ gemeint ist. Besonders beeindruckend: Zu Dies Irae sprang der Chor äußerst sportlich im Rhythmus der Musik, die so pulsierend gelang, dass ich am liebsten gleich mitgetanzt hätte.
Man muss bei Castellucci für Symbolik offen sein. Auch diesmal wurde man mit starken Bildern voller Semiotik nur so bombardiert. Der Hipsterbart links vor mir bekam einen Lachkrampf, als eine blonde Zwölfjährige mit Farbpulver und irgendwelchen Flüssigkeiten vollgeschmiert und an die Wand gehängt (!) wurde, während der Chor in volkstümlichen Kostümen (Silvia Costa) herumhüpfte. Kurz danach blieb das Mädchen allein mit einem Palmenblatt (in einer argen Divapose) liegen, während ein Bub einen Totenkopf kickend reinrannte und ein glasklares Solo sang, das mich zu Tränen rührte. Klingt jetzt im Nachhinein unglaublich weird, am Abend riss mich das Ganze aber voll mit. So stark bewegt hat mich noch kaum je ein anderes Bühnenspektakel.
Bequeme Stühle bringen Bonus
Die volksfestartigen Gruppenchoreografien waren eher ein Fest des Lebens als des Todes. Mit dem düsteren Brahms-Requiem hätte das kaum harmoniert, genau das ist aber das Geniale in Mozarts Totenmesse: Sie bleibt bei aller Trauer lebensbejahend und hoffnungsvoll. Raphaël Pichon gestaltete diese Wundermusik mit seinem Pygmalion-Orchester für meinen Geschmack zu verwaschen. Ein wenig könnte das auch an der Akustik der Halle E des MQs liegen; mal schauen, wie wohl sich hier das ausquartierte Theater an der Wien fühlen wird. Immerhin gibt es in Wien nirgendwo bequemere Stühle, das zählt auch...
Es folgten weitere starke Bilder. Der gesamte Chor fiel nach Lacrimosa mitten im unvollendeten Amen-Fragment mit einem lauten Rumms um. Danach tappten drei alte nackte Männer durch die Dunkelheit, ein skurril-perfektes Bild zu den ausgestorbenen Religionen, die dazu an der Rückwand erschienen. Zu Quis Te Comprehendat wurde an zerstörte Gebäude erinnert, von der Antike bis zum World Trade Center. Als zum Schluss das Theater in Mariupol aufleuchtete brach ich in Tränen aus, die ganze nächste Szene mit einem Maibaumtanz sah ich nur verschwommen.
Begraben unter frischem Erdengeruch
Von den Solist*innen beeindruckte besonders Altistin Sara Mingardo, die an ihrem 61. Geburtstag mit ihrem Solo in O Gottes Lamm kurz vor Schluss zeigte, dass sie immer noch Weltklasse ist. Das war weich, rund und unglaublich fein. Beim Finale des Requiems zog sich der Chor dann in der Dunkelheit aus und verließ die Bühne summend. Zurück blieben ihre Kleider (die Auschwitz-Bilder evozierten) und eine Schicht Erde. Plötzlich vernahm man mechanische Geräusche in der Dunkelheit, der komplette Bühnenboden erhob sich langsam und kippte die Erde mit den Kleidern runter: Wir wurden alle unter starkem Erdenduft begraben. Castellucci beließ es aber nicht bei diesem dunklen Bild: Zu einem weiteren Knabensolo erschienen vier Frauen und ließen ein tatsächliches Fleischblut-Baby in der Bühnenmitte, das in der Totenstille fröhlich herumspielte. Selbst wenn wir begraben werden, das Leben geht weiter.