Letzter Aufzug der Currentzis-Saga?

Der letzte Auftritt eines gefallenen Stars im Wiener Konzerthaus und wo er (noch) auftreten darf: Teodor Currentzis und sein Nachfolger am gleichen Wochenende in Wien.

You want it darker? /// Anton Zavjyalov, Bohema (c)

Das war mal ein Finale. Nach über anderthalb Stunden Mahlerwahnsinn endete im Konzerthaus eine Ära mit einem Musterbeispiel an Currentzis’scher Powermusik; der letzte Satz der Dritten Sinfonie gelang so perfekt gezogen, crescendiert und explodierend, wie in alten Zeiten, als Currentzis noch mit seinem Ensemble MusicAeterna auftreten durfte, das weiterhin von Gazprom, VTB und Co. finanziert wird und im Westen daher nicht willkommen ist. In Wien wird der Sondergrieche nach diesem Konzert auch mit seinem neuen Westorchester Utopia nicht wieder auftreten, auch nicht mit dem SWR-Sinfonieorchester, dessen Chefdirigent er immer noch ist. In den letzten zehn Jahren wurde das Konzerthaus zu einem der wichtigsten westlichen Standorte von Currentzis, jetzt ist er in Wien vorerst Geschichte.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich mittlerweile im Konzerthaus angestellt bin, Details zur Entfremdung zwischen dem wohl größten Star des Hauses und meinem Arbeitgeber werde ich also keine preisgeben. Der Druck war jedenfalls groß, und er wird gerade größer. Am Sonntag veröffentlichte Moritz Eggert, Präsident des deutschen Komponist:innenverbandes (wir haben über seine Operette in der Volksoper geschrieben) einen flammenden offenen Brief an Currentzis

 „Zu diesem Krieg zu schweigen, ist ein Tritt in die Fresse von Schostakowitsch, Herr Currentzis. Zu diesem Krieg zu schweigen ist so, als ob man auf das Grab von Britten pisst. […] man kann nicht allen Ernstes gemeinsame Sache mit denen machen, die diesen Krieg angefangen haben und dann ätherisch in die Kamera grinsen und irgendeinen Scheiß von der „Kraft der Musik“ faseln. Fuck it.“

Starke Worte, am besten, man liest den ganzen Brief. So polemisch der auch ist, im Grunde hat Eggert leider recht. Die Woche davor äußerte sich Schlagzeugstar Martin Grubinger im ORF Kulturmontag ähnlich (ironischer Weise gerade im Konzerthaus): „Das ist für mich kein Künstler mehr. Es ist zutiefst enttäuschend. Wir haben Butscha erlebt, die Massaker, die die russische Armee täglich in der Ukraine aufführt. Wie kann ich da als Künstler schweigen? Wie kann ich da zu den Salzburger Festspielen gehen und sagen: ‚Jetzt interpretiere ich für Euch den Beethoven?‘ Das ist ein totaler Widerspruch.“

Man muss für Currentzis-Konzerte (noch) nicht nach Russland fahren

À propos Salzburg, da tritt Currentzis auch in diesem Sommer auf. Und auch in der nächsten Saison muss man (noch?) nicht nach Russland fahren, um ihn zu erleben. Mit Utopia sind zwei Tourneen veröffentlicht, im November Berlin, Antwerpen, Brescia, Rom mit Tschaikowskis 5. und Brahms‘ Violinkonzert. Ein*e Solist*in steht allerdings noch nicht fest, Brescia und Antwerpen sind zudem nicht gerade high flying Adressen. Für die zweite Tour im Mai steht nur ein Konzert in Berlin fest. Es wird offensichtlich schwerer, Spielorte zu finden. Auch mit seinem SWR-Orchester geht er international nicht auf Tournee, in der Elbphilharmonie in Hamburg, im Konzerthaus Dortmund und im Festspielhaus Baden-Baden darf er aber noch auftreten. Es würde mich persönlich aber nicht überraschen, wenn manche Veranstalter*innen ihn bis dahin ausladen würden.

In Russland tourt er währenddessen weiter, vor einigen Wochen sickerte es sogar aus, dass er am renommierten Moskauer Konservatorium Professor werden sollte. Das wurde vom SWR dann zwar dementiert, scheinbar ist die russische Seite aber auch bemüht, den Sack zuzumachen. Es wäre interessant gewesen, zu beobachten, in welche Richtung sich Currentzis weiterentwickelt, den jungen Punk kann und will er offensichtlich nicht mehr geben. Die frenetischen Standing Ovations im Konzerthaus waren jedenfalls in Wien für eine Weile die letzten für ihn.

Und der Nachfolger?

Am gleichen Wochenende war ein paar Ecken weiter im Musikverein der Nachfolger von Currentzis zu Gast: François-Xavier Roth wird ihn ab Herbst 2025 beim SWR ersetzen. Der Franzose ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit Currentzis. Auch er wurde mit seinem eigenen Ensemble berühmt, auch er ist ein Innovator, ein Förderer der Neuen Musik, um die 50 usw. Mit seinem Orchester Les Siècles dachte er die Originalklang-Idee radikal weiter, sie spielen auch romantische und frühmoderne Musik auf zeitgetreuen Instrumenten, suchen jeweils den Sound der Zeit.

Im Musikverein gestaltete Roth mit Les Siècles ein kleines Festival mit dem Titel ‚Paris Tanzt‘, es wurden Werke gespielt, mit denen Sergej Diaghilews Ballets Russes am Anfang des 20. Jahrhunderts Paris zur Ekstase brachten. Schon nach dem ersten Stück des letzten Abends, Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune saß ich baff da, wollte kaum glauben, wie schillernd das Klangfarbenbad war, das uns da eingegossen wurde. Musikalisch ist Les Siècles nicht weniger spannend oder aufregend, als MusicAeterna. Die Russ*innen haben noch krassere Extremen drauf, dafür klingt Roths Ensemble bunter, reicher, schöner und gab mir bei Strawinskys Le Sacre du Printemps mit einer Klanggewalt auf Currentzisniveau Kopfschmerzen.

Der Haken

Warum sollte man dann Currentzis Nachweinen? Es gibt nur einen Grund, warum Les Siècles nicht das neue MusicAeterna ist: François-Xavier Roth hat den Charme eines geschiedenen Anwalts aus Poitiers, eines mittleren Managers bei Renault, eines emeritierten Onkels aus gutem Hause. Es ist wirklich toll, was er macht, innerhalb der Szene spricht er mit seinen Ideen und seinen starken Interpretationen auch viele an. Aber als kontroverse Galionsfigur mit Reichweite, als Männer- und Frauenschwarm in einer Person, als aufregender, undurchschaubarer Künstler ist er ähnlich unbrauchbar wie Currentzis als cuter Balljunge beim Rolland Garros. Braucht die Szene solche Menschen überhaupt? Nein, ach was, sie darf ruhig so gemütlich weitersterben, wie bisher. Ich halte meine Augen jedenfalls offen auf der Suche nach einem zweiten Currentzis, der erste erledigt sich gerade leider selbst.

UPDATE: Wer sich für den Verlauf der Kontroverse um Currentzis interessiert, kann das in meinen früheren Artikeln über ihn tun: Salzburg/Sommer; Utopia/Herbst

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