L’Événement – Die Behandlung der Hausfrauenkrankheit

Der Viennale-Eröffnungsfilm behandelt das zeitlose Thema der Schwangerschaftsabbrüche.

Wild Bunch (c)

Anne (Anamaria Vartolomei) studiert im Jahr 1963 Literaturwissenschaft. Sie ist die erste Person in ihrer Familie, welche eine akademische Laufbahn einschlägt, worauf vor allem ihre Mutter stolz ist. Sie gehört zudem zu den besten ihres Jahrgangs. Doch dann kommt die Hiobsbotschaft: Anne ist nach einem One-Night-Stand schwanger. Ihr droht ein unzureichendes Schicksal, denn sie müsse nun ihr Studium aufgeben und in der familiären Schenke arbeiten. Aber genau das will sie nicht. Denn dann würde sie ihr Kind für die verpassten Chancen und aufgegebene Träume hassen. Daher versucht sie alles, um die Schwangerschaft zu beenden. Ein geradezu unmögliches Unterfangen, denn Abtreibungen sind im Frankreich der 60er Jahre illegal. 

Geschlechter-Ungleichgewicht

Ein spannendes Drama hat uns Regisseurin Audrey Diwan da geboten. Ein Stück Zeitgeschichte, die dennoch auch zeitlos ist, denn die Thematik um Abtreibung wird bis heute heiß diskutiert. Die Möglichkeiten für Frauen sind bis heute eingeschränkt und kompliziert. Umso spannender ist es, Anne dabei zu beobachten – denn etwas anderes kann das Publikum in dieser Situation nicht machen – wie sie versucht, Herrin über ihre Lage zu werden. L‘evenement bedeutet übersetzt „Das Ereignis“. Eine Schwangerschaft ist gewohnter Weise ein freudiges Ereignis. Doch für Anne ist es „die Krankheit, welche sie zur Hausfrau macht“, wie sie ihrem Dozenten nach dessen Nachfragen erzählt. Der Film verdeutlicht das Ungleichgewicht zwischen den beiden normativen Geschlechtern, denn Männer sind nicht davon betroffen. Der Vater des Kindes kann getrost sein leben weiterführen, und muss sich kaum um etwaige Einschränkungen sorgen. Währenddessen muss Anne drastische Maßnahmen ergreifen.

Klassenkampf und Spionagefilm-Ästhetik

Einem Spionagefilm gleich gibt es geheime Treffen und Unterhaltungen beim Spaziergang im Park, Codewörter etc. Ebenso hängt die Frage, wer Freund und wer Feind ist, wie ein Damoklesschwert über der Geschichte, und hält überraschende Antworten parat. Nur, dass der Spionage-Film Fiktion ist, hier werden reale Ereignisse erzählt.

Wild Bunch (c)

Diwan zeigt auch, dass Nacktheit im Film nicht zwangsläufig sexualisiert sein muss. Eine untergeordnete, aber doch auch wichtige Rolle spielt Klassizismus. Als Arbeiterkind vom Land hat Anne unter ihren Kommilitoninnen einen schwereren Platz, weswegen sie ihre erkämpften Erfolge nicht aufgeben will. 

Implizierte Brutalität

Die Abreibungsszenen sind hart und brutal in ihrer Impliziertheit und Thematik, vorwiegend aber zurückhaltend inszeniert. Die Kamera bleibt auf Annes Gesicht oder dem der Engelmacherin; es muss keine Großaufnahme auf den Intimbereich gemacht werden, um dem Publikum die Ernsthaftigkeit der Situation vor Augen zu führen und Unbehagen auslösen. 

Auch die Stakes sind immer verständlich kommuniziert: Dem Publikum wird immer klar gesagt, worum es gerade geht. Neben den möglichen körperlichen Folgeschäden für die Frau gibt es auch juristische Folgen für sie und Ärzte. Alles steigert sich auf einen fulminanten Höhepunkt zusammen. Das spannende Finale lässt den/ die Zuschauer*In auf der Sesselkante sitzen. 

Fazit: Ein ErLEBnis

Was bleibt, ist das Schreiben. Schreiben über die wiedererlangte Freiheit, über das Erlebte (der Film basiert auf der gleichnamigen Autobiographie von Annie Ernaux) und natürlich über den Film selbst. L‘evenement ist ein Erlebnis. Er besticht durch gute schauspielerische Leistungen und eine klare und deutliche Inszenierung wie auch Erzählweise. Die Thematik und die Brutalität der Geschehnisse allein machen den Film schon zu einem harten Tobak. Aber er ist auf jeden Fall ein Muss.

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