Extremsituation im sicheren Hafen

Die Nachtblende im Gartenbaukino geht in die zweite Runde. Julian Stockinger, Kurator und Organisator der nächtlichen Filmreihe, im Interview.

Julian Stockinger /// Slash Festival (c)

Bohema: Seit 2019 organisierst und kuratierst du Mitternachtsfilm-Reihen, zuerst im Schikaneder, nun im Gartenbaukino. Was interessiert dich an dieser spezifischen Art Kino?

Julian Stockinger: Das Interesse an Horrorfilmen und an Filmen, die mich visuell und auch narrativ fordern, war schnell da und ich habe früh sehr viele Filme gesehen. Also wirklich früh. Ich war immer auf der Suche nach Extremsituationen aus einem sicheren Hafen heraus. Das ist eine Qualität vom Kino: man ist im Sicheren und liefert sich fordernden Situationen aus. Und ich glaube, dass es ein Muss ist, dass Filme das auch in Zukunft so machen. Filme, die das Publikum zwingen, sich in andere Perspektiven zu begeben, auch wenn diese Perspektiven nicht unbedingt vereinbar sind mit den eigenen Werten. Darüber hinaus ist das, was ich mit der Reihe mache, natürlich nichts neues: Sowohl die Til Midnight Movies, die es im Schikaneder gab, als auch jetzt die Nachtblende im Gartenbau sind angelehnt an die Midnight Movies. Das ist ein Phänomen, was in den 70er Jahren gestartet ist und endend mit Eraserhead als abgeschlossen betrachtet werden kann. Aber die Spät- und Nachtschienen-Tradition lebt natürlich weiter.  Wie ich das 2019 im Schikaneder begonnen habe, hatte ich das Gefühl, dass es so etwas kaum in Wien gibt. So eine konstante, monatlich stattfindende Filmreihe hat es meines Wissens in dem Ausmaß nicht gegeben.

B: Was macht die Uhrzeit der Projektion mit einem Film?

JS: Ganz persönlich: am Abend ist für mich tendenziell alles eher wie ein Rausch, weil ich einfach nicht mehr allzu gut filtern kann. Da geht es nicht zwingend darum, Filme rational von Szene zu Szene zu begreifen und zu verstehen. Die originalen Midnight Movies wie Eraserhead und El Topo sind ja auch sehr fragmentarisch und haben kein klares Narrativ. Und es sind Filme, die zu einem gewissen Grad einfach anstößig sind, dunkle Filme, das passt zur Nacht. In den Siebzigern war außerdem das Gemeinschaftliche essenziell. Da gehörte bei den Midnight Movies auch der Marihuanakonsum dazu - heute ist das vielleicht Alkoholkonsum, das Ausgelassene. Mehr ein Erleben von Filmen als ein Verstehen.

Eraserhead (1977) von David Lynch /// Studiocanal (c)

B: Ich war bei eurer Eröffnungsveranstaltung, Eraserhead. Da war ein Haufen junger Menschen. Woran liegt das? Ist es dir auch ein Anliegen, da junge Leute ins Kino zu holen?

JS: Mir ist das ein riesengroßes Anliegen, es ist umso größer geworden nach diesem ersten Abend bei Eraserhead. Natürlich ist es auch mir aufgefallen, dass das Publikum wahnsinnig jung war. Und das hat mich sehr gerührt, das hat mich extrem gefreut, weil ich es in dem Ausmaß auch aus dem Schikaneder noch nicht kannte. Ich glaube, es hat auch ein bisschen was mit der Persona David Lynch zu tun, die natürlich einen gewissen Kultfaktor hat. Den hat man gern, auch wenn man vielleicht nicht alles teilt von seiner esoterischen Seite. Aber das ist schon eine Figur. Ich habe geahnt, dass das der beste Eröffnungsfilm ist aus diesem Programm, aber dass fast 400 Leute kommen, damit habe ich sicher nicht gerechnet um 22:30 Uhr.

Ich denke, dass das nonstop-Kino-Abo tatsächlich viel damit zu tun hat, man weiß, dass in erster Linie junge Menschen dieses Abo haben. Und ein Drittel der Leute, die bei Eraserhead waren, haben nonstop verwendet. Es freut mich wahnsinnig, vor allem, weil es mitunter schwierige und ältere Filme sind. Aber ich bin ja mit dreißig auch selbst noch jung…

B: Nun hat auch ein Gang ins Kino um Mitternacht Eventcharakter, überhaupt scheint diese Tendenz zuzunehmen, siehe Barbie. Meinst du, das braucht es heute, um (gerade junge) Menschen ins Kino zu holen?

JS: Ich habe letztens mit einem Freund geredet und der glaubt, dass es tatsächlich die Zukunft von Kino ist, dass man sich mehr auf ältere Filme fokussiert, mit der Ausnahme von gehypten, neuen Filmen. Du sprichst da eine gewisse Eventisierung vom Kino an, die natürlich irgendwo stattfindet. Auch ich beobachte, dass Kinobetreiber*innen mehr Fokus auf den Eventcharakter einzelner Screenings legen.

Das sehe ich ambivalent: einerseits ist es großartig, dass das Kino es schafft, so viele Menschen ins Kino zu locken, anstatt sich die Filme zu Hause anzuschauen. Gleichzeitig finde ich persönlich auch toll, einfach nur ins Kino zu gehen, ohne dass da jetzt ein Riesen-Tamtam drum ist. Für mich hat das Kino an sich auch eine wahnsinnig große Wirkung. Selbst wenn ich mit zwei anderen Menschen im Saal sitze, ist das etwas gänzlich anderes, als wenn ich mir einen Film zu Hause anschaue.

Tokyo Drifter (1966) von Seijun Suzuki /// Nikkatsu (c)

B: Im ersten Programm habt ihr fünf der sechs originalen Midnight Movies gezeigt. Kann man die Filme überhaupt unter einen Nenner bringen? In der Recherche fällt oft der Begriff des Kultfilms.

JS: Ich denke, es ist schwierig und der Begriff wird viel zu oft verwendet. Aber: bei wenigen Filmen passt der Begriff so gut wie bei den sechs originalen Midnight Movies. Diese Filme sind über Jahre in Mitternachtsvorstellungen gelaufen und es war ganz normal, dass sich Fans diese Filme immer und immer und immer wieder angeschaut haben und sich die gleichen Leute in diesen Kinos getroffen haben. Das war schon rituell, da passt dieser Begriff, finde ich, wirklich sehr gut.

Ben Barenholtz, der die Midnight Movies damals in New York gegründet hat, hat diese Filme wirklich ganz fein säuberlich kuratiert. Begonnen hat das mit El Topo. Und das war wirklich eine Überraschung. Aber danach war er dezidiert auf der Suche nach Filmen, die dieses Phänomen aufrecht halten können. Und das ist ihm über die ganzen 70er gelungen – wenngleich es bei einigen Filmen zunächst Schwierigkeiten gab. Eraserhead ist am Anfang wirklich nicht gut gelaufen, aber Barenholtz war so überzeugt von diesem Film, dass er nicht von ihm abgelassen hat. Zum Glück, Eraserhead gilt heute als einer der einflussreichsten Filme überhaupt. Ohne Ben Barenholtz wäre das vielleicht nicht so gewesen.

In den dreieinhalb Jahren im Schikaneder habe ich keinen einzigen der originalen Midnight Movies gezeigt. Das hat unterschiedliche Gründe, auch Kostengründe. Im Gartenbaukino habe ich mir gedacht, wenn das möglich ist, ist es einfach ein wunderschönes erstes Programm, auch als Statement. Einerseits gehen alle Spätschienen auf dieses Phänomen zurück und andererseits sind die Filme an sich exemplarisch für das, was wir mit der Nachtblende machen wollen: sich nicht zu versteifen auf den Horrorfilm. Die Midnight-Movies haben entgegen ihrem Ruf immer schon mit Genres gebrochen und waren gar nicht so horrorlastig, wie man heute fälschlicherweise denkt. El Topo, das ist ein psychedelischer Western. Pink Flamingo hat auch nicht viel mit Horror zu tun. Es sind Filme, die mit Konventionen brechen. Und die, wenn man sich darauf einlässt, ein wirkliches Erlebnis darstellen können. Auch wenn die Filme nicht immer gefallen und nicht immer gefallen können, ist das doch mein Anspruch an die Reihe: dass jeder Film ein Erlebnis darstellt.

Cruising (1980) von William Friedkin /// United Artists (c)

B: Auffällig ist, dass ihr keine neuen Filme zeigt. Viele der gezeigten Filme stellten damals eine Provokation dar – gibt es so etwas im heutigen Kino noch?

JS: Ich glaube, das geht auf jeden Fall. Aber die Sachen, die damals provoziert haben, provozieren heute weniger. Ich bin nicht unbedingt ein Anhänger der Meinung, dass man heute keine provokanten Filme mehr machen kann, das finde ich gar nicht. Gegenbeispiele wären Titane von Julia Ducournau, das ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Aber unser Fokus liegt auf Perlen, die schon länger nicht mehr zu sehen waren. Wenngleich ich nicht ausschließen würde, hier und da einen neuen Film einzubauen.

Zurück zur Provokation: dass ein Film als Skandal große Wellen schlägt, ist tatsächlich weniger geworden. Ich denke, das verrennt sich heute, es gibt einfach wahnsinnig viele Filme.

Es gab einen kleinen Skandal, wenn man das so nennen will, zum österreichischen Film Trouble With Being Born, der wegen vermeintlicher Verharmlosung von Pädophilie aus einem Festival gestrichen worden ist.  Ansonsten sind Skandale heute eher an Produktionsbedingungen geknüpft, wie bei Seidl. Dass da ein Diskurs darüber entsteht, wie Filme gemacht werden, mit welchen Methoden man arbeitet, finde ich sehr gut und wichtig.

B: Am 12. August startet euer zweites Programm, magst du etwas über die Kuration erzählen?

JS: Durch die starke Orientierung an den originalen Midnight Movies war das erste Programm kuratorisch quasi vorgegeben. Uns war es ein Anliegen, die zweite Runde nun offener zu gestalten. Das Programm heißt Nocturnal Lights, es geht im weitesten Sinne um Großstadtfilme, in denen die Nacht und nächtliche Lichter essenziell sind. Entstanden ist es so, dass der japanischer Regisseur Seijun Suzuki, den ich sehr gerne mag, hundert Jahre alt geworden wäre im Frühling dieses Jahres und ich gern Tokyo Drifter von ihm als Hommage einbauen wollte. Um den Film herum ist das Programm gewachsen.

Dann kam der Oscar Gewinn vom Michelle Yeoh. Da habe ich mir gedacht, okay, Michelle Yeoh ist jetzt superbekannt durch Everything Everywhere All At Once, hat aber wahnsinnig tolle Filme früher gemacht, so kam The Heroic Trio dazu.

Wir starten mit Strange Days von Kathryn Bigelow, was mich sehr freut. Jetzt weiß ich seit gestern, dass wir den auch in 35 Millimeter zeigen werden, wie sowieso vier der fünf Filme - nur Cruising nicht. Den Abschluss macht Inferno von Dario Argento. Es sind sehr, sehr unterschiedliche Filme, auch aus verschiedenen Jahrzehnten. Das verbindende Element sind die Lichter und die Großstadt.

Strange Days (1995) von Kathryn Bigelow /// 20th Century Studios, Universal Pictures (c)

Nähere Informationen zur Nachtblende im Gartenbaukino - terminlicher und sonstiger Art - findet ihr auf der Website des Kinos, auf Instagram und Facebook.

Previous
Previous

Doppelt sehen: „Barbenheimer“, Double-Features und das Ende der Genregrenzen

Next
Next

Puppentheater? Sammelkritik zu Barbie