Silberbesteck aus der Vogelperspektive
Tobias Kratzer versuchte sich an Rossinis selten gespielter La gazza ladra im Musiktheater an der Wien. Hat sich diese Ausgrabung gelohnt? Außerdem: Welches Opernhaus der Regisseur angeblich als Direktor übernehmen wird.
Die Ouvertüre ist berühmt, den Rest der Oper hat kaum jemand gehört. In der Halle E des Museumsquatiers, die das Musiktheater an der Wien während Renovierungsarbeiten ersetzt, bringt Tobias Kratzer Rossinis „opera semiseria“ auf die Bühne. Semi seria, halb ernst? Dieses gemischte Genre benötigt auch einen dementsprechenden Inhalt…
Eine Hausfrau schlägt Alarm, denn es fehlt mittlerweile schon ein Löffel und eine Gabel aus ihrem Silberbesteck. Das Dienstmädchen Ninetta, das beschuldigt wird, wird daraufhin zum Tode verurteilt. Obendrein kommt dazu, dass Ninetta ihren desertierten und gesuchten Vater deckt, dem ebenfalls die Todesstrafe blüht. Der Bürgermeister erhitzt den Prozess zusätzlich, um sich an Ninetta zu rächen, die ihn zuvor abblitzen ließ. Ihr Liebhaber ist nämlich der Sohn der Silberbesteck-Hausfrau. Das Silberbesteck sehen wir allerdings aus der Vogelperspektive, denn:
Eine diebische Elster ist die wahre Übeltäterin.
Tobias Kratzer kreiert aus der Elster eine ganz eigene Rolle. Videos aus der Vogelperspektive, im wahrsten Sinne des Wortes, werden immer wieder eingestreut, um Flüge des Vogels, sein glitzerndes Nest oder die Beobachtung der weiteren Figuren zu zeigen. Eingebettet ist die Elster-Videoleinwand in einen Querschnitt eines provinziellen, einstöckigen Hauses. Über dem Geländer hängt Wäsche, das Liebespärchen verschwindet über die Leiter auf den Heuboden, der Mercedes des Bürgermeisters fährt in die Garage ein und in der Küche wird brav Besteck gezählt. Mit tatkräftiger Unterstützung des Arnold Schönbergchors wird immer wieder dazu- oder weggebaut, damit auch eine ganze Gerichtsszene in der Garage stattfinden kann.
Ein Auto auf der Bühne lässt manche wieder Augen rollend eine Regietheater-Debatte beginnen. Insgesamt ist die Inszenierung allerdings sehr brav gehalten, sodass Kratzer beruhigt sagen kann, er hat ein schönes Regie-Debut in Wien gefeiert. Auf jeden Fall ist deutlich geworden, dass hier ein Musiktheaterregie-Spezialist am Werk war, was mittlerweile nicht mehr selbstverständlich ist. Es gelangen Lacher, durchwegs schöne Bilder und gut geführte Ensembleszenen. Die Sänger spielten dabei unterschiedlich überzeugend, da doch so manche Operngestiken nicht auszutreiben sind.
Gesungen wird allerdings großartig.
In der weiblichen Hauptrolle Nino Machaidze als fast schon zu starker Sopran, der selbst mit Rücken zum Publikum die Halle E zum Dröhnen bringt. Maxim Mironov gibt einen perfekten Liebhaber, der für Auge und Ohr ein Gewinn ist und eine Direktheit in der Stimme trägt, die an heutige Belcanto Größen wie Juan Diego Florez erinnert. Ausgezeichnet auch die weiteren Herrenrollen mit Paolo Bordogna als Fernando Villabella, Nahuel Di Pierro als Gottardo und der Mezzosopranistin Diana Haller als Pippo. Der Gesamtklang von RSO (Dirigat: Antonio Fogliani), Arnold Schönbergchor und Solist*innen ist überwältigend voll, sodass die Halle E beinahe zu klein für so große Oper wirkt.
Wird La gazza ladra zu Unrecht so selten gespielt? - Jein. Die Musik ist Rossinifreude pur, da kann man auch 3 ½ Stunden zuhören. Der Inhalt ist allerdings nicht sehr ausgiebig und die Charaktere sind schwach gestaltet. Selbst die „bösen“ und „gemeinen“ Figuren halten nicht Stand und bereuen schwächelnd, um in den Happy-End-Gesang einzustimmen. Zusätzlich nimmt die Handlungsdichte gegen Ende ab und schwimmt einem Finale entgegen, das sich das Publikum nach zwei sehr langen Akten schon herbeisehnt. La gazza ladra ist jedenfalls sehens- und hörenswert, doch mit dieser Serie des Musiktheaters an der Wien dürfte der Bedarf wieder für einige Zeit gestillt sein.
Update: Tobias Kratzer übernimmt laut Manuel Brug (Die Welt) ab 2025 die Direktion der Hamburgischen Staatsoper. Good luck!