Spannender als Salzburg?

Regietheater vs klassisch schön: Ein Mozart-Experiment von Dmitri Tcherniakov und ein Wozzeck in Vollendung von Simon McBurney beim Aix-en-Provence Festival.

Mozart radikal neu gedacht /// Monika Rittershaus (c)

Aufbruchsstimmung nach einem Weltkrieg prägte nicht nur die Gründung der Salzburger Festspiele, sondern auch das Aix-en-Provence Festival. Nur eben einen Weltkrieg später. 1948 finanzierte die schillernde Comtesse Lily Pastré die erste Saison ganz aus der eigenen Tasche und lud unter anderem die legendäre rumänisch-jüdische Pianistin Clara Haskil ein, der sie während der NS-Besatzung das Leben rettete; wie dutzenden weiteren jüdischen Künstler*innen, die sie in ihrem Château versteckte oder zur Flucht verhalf. Rasch etablierte sich das Festival als eines der führenden sommerlichen Pilgerstätten für Opernfans in Europa.

Das betucht-betagte Festspielpublikum bekommt einen Spiegel vorgehalten

Mozart spielte dabei durchweg eine prominente Rolle, Così fan tutte war die allererste Produktion im damals noch provisorisch bestuhlten Innenhof des Erzbischofspalastes. 75 Jahre später deutete heuer Regisseur Dmitri Tcherniakov den gleichen Stoff am gleichen Ort neu, und zwar ziemlich radikal. Seine Protagonist*innen sind keine jungen Liebhaber*innen, sondern ergraute Ehepaare um die 50, die in einem minimalistisch-luxuriösen Anwesen ein Experiment eingehen und die Partner tauschen. Als Festspielversuch taugt diese Idee gut, umso mehr, da Tcherniakov gerade dem betucht-betagten Festivalpublikum den Spiegel vorhält. Die Stringenz und Intensität von Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe, das als Vorbild thematisch und atmosphärisch zitiert wurde, erreichte die Inszenierung allerdings nicht, dem stand vor allem Librettist da Ponte im Weg. Wenn die Diskrepanz zwischen Original und Deutung zu groß wurde, entschädigten immerhin ein oscarreif spielendes Ensemble und die Freiluftstimmung inklusive Sternenhimmel, Hubschrauberstörung und Holzsplitter im Rücken aus dem verwitterten Stuhl.

Ehedrama à la Bergman /// Monika Rittershaus (c)

Tcherniakov hat recht, wenn er meint, dass Mozarts Original dem heutigen Publikum ein Rätsel bleibe. Viel verständlicher war seine Version auch nicht, mit der verschwindenden Liebe in unserer gelangweilten Wohlstandsgesellschaft war sie aber thematisch greifbar. Ein signifikanter Teil des europäischen Opernpublikums sind solche kreativen Inszenierungen, bei denen Regisseur*innen ihre eigenen Ideen in den Vordergrund stellen, auch nach über 100 Jahren Regietheater im deutschsprachigem Sprachraum ein Dorn im Auge. Immerhin sorgen sie aber Diskussionen und Kontroversen. Manchmal gehen die Ideen auch auf, oder zumindest teilweise, wie bei Tcherniakov.

Klassisch, hochwertig, stark /// Monika Rittershaus (c)

Simon McBurneys Wozzeck hingegen war ein Paradebeispiel dafür, wie eine Produktion klassisch und modern zur gleichen Zeit sein kann. McBurney schaffte mit wenigen Mitteln geniale Theatermomente. Eine bewegliche Tür, ein paar Lampen, die Drehbühne, Projektionen (die nicht nur Selbstzweck waren) und die gekonnt choreographierten Akteure waren dem britischen Theatermagier genug, um starke Bilder und noch stärkere Gefühle zu erzeugen. Dass Christian Gerhaher ein großartiger Wozzeck ist, wissen wir in Wien schon seit der Neuproduktion von Simon Stone. Im Graben des Grand Theatre de Provence leitete mit Sir Simon Rattle ein Experte mit direkter Verbindung zur Uraufführung das London Symphony Orchestra: Rattle wurde noch von Berthold Goldschmidt, Erich Kleibers Assistenten bei der Uraufführung in Berlin 1925, in die Geheimnisse des Werks eingeweiht.

Bessere Küche als in Salzburg, Piniengeruch aber heiß wie in der Hölle

Rattle meisterte die schwierige Balance zwischen moderner Klarheit und romantischer Klangfülle, auch wenn letztere in der eher mittelmäßigen Akustik des riesigen Neubaus nicht ideal zur Geltung kam. Die Chance, bei dem Bau des Hauses Anfang des Jahrhunderts etwas gemütlicheres, schöneres, als das Festspielhaus in Salzburg zu erschaffen, hat man in Aix leider verpasst. Immerhin lockt die inoffizielle Hauptstadt der Provence mit besserem Essen, einer pittoresken Altstadt und dem betörenden Geruch der Pinien. Das einzige Problem ist die tödliche Hitze; das Eis in der Pause kann nur kurz davon ablenken, dass der globale Süden in Flammen steht. Wem Hitze nichts ausmacht, darf aus einem attraktiven Programm wählen. Dieses Jahr wurden unter anderem die „Dreigroschenoper“ (allerdings auf Französisch), ein neues Werk von George Benjamin sowie eine Musiktheaterfassung des queeren Klassikers „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, die am 27. und 28. Juli bei den Bregenzer Festspielen gastieren wird. Dazu kommt eine Reihe von Konzerten, unter anderem mit dem Jubilar HK Gruber sowie gleich drei große konzertante Opern. Es ist davon auszugehen, dass Intendant Pierre Audi auch im nächsten Sommer mit lyrischen Leckerbissen aufwarten wird.

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