Taiwanesischer Tango
Zwei Filme, zwei Frauen, zwei Schicksale. Eine kaltblütige Killerin in China, eine umhergetriebene junge Frau in Paris. Beide auf der Suche nach Befreiung, von Zwängen, Erwartungen und Beziehungen.
Prüfungen geschafft, Ferien, frei. Was tun mit dieser geschenkten Zeit? Die Antwort ist klar, Filme schauen. Ich sitze auf meinem Bett und scrolle Minute um Minute durch das nie endende Angebot. Deutsche Komödie? Nein, heute nicht. Britischer Spionage Film? Gab es gestern schon. Ich verlasse das Netflix-Nimmerland und klicke auf meine alte Vertraute: Arte Mediathek. Hier gibt es die guten Filme. Weitere Zwanzig Minuten vergehen, ich kann mich nicht zwischen schwarz-weiß Filmen von Erik von Strohheim und den neusten Stars des französischen Kinos entscheiden. Es ist ja schon Mitternacht, fuck ich klicke jetzt einfach irgendwas an.
Eineinhalb Stunden später und ich logge The Assassin vom taiwanesischen Regisseur Hou Hsiao-Hsien bei Letterboxd ein. Erstmal eine rauchen, muss darüber nachdenken was ich gerade gesehen hab. In einem Satz ein Martial Arts Film mit weiblicher Hauptrolle, aber war dann eher Arthouse Film, der sich der klassischen Erzählweise entzieht.
Der Film folgt einer Killerin, die sich in einer (typisch für das Wuxia-Genre) großen historischer Kulisse im Kampf beweisen muss. Ihre Kulisse bildet die Zeit der Tang-Dynastie und während der Zuschauer lange auf Kostüme und Orte blicken darf, schleicht sich nach Minuten des Wartens die Killerin durch die Schatten des kaiserlichen Hofs oder durch einengende Birkenwälder. Es werden vielleicht Zehn Seiten Dialog im ganzen Film gesprochen, am wenigsten von der Protagonistin selbst. Der Film ist langsam, quälend langsam und lässt uns auf die Gewalt warten, sodass wir sie glücklich empfangen. Wenn zwischen fast nie stillstehender Kamera und dem Rauschen von Büschen dann endlich ein Kampf zu sehen ist, wird dieser so gezeigt, dass wir unbefriedigt auf immer mehr Gewalt hoffen. Aber das ist nicht, was mich an diesem Film festhalten ließ - es war das Schweigen.
In der gleichen Nacht, es ist jetzt halb drei, ist mein Filmdurst noch nicht gestillt. Etwas determinierter als zuvor klicke ich auf einen Film, den ich noch nicht kenne. Marlon Brando ist auf dem Cover zu sehen. Hab doch bisher so wenige Filme mit ihm gesehen… und es wird noch besser: ein Bertolucci Film aus den frühen Siebzigern, das kann ja nur gut werden. Ich halte nicht mal die Hälfte des Filmes durch.
Nicht, da ich einschlafe. Nein - Der letzte Tango in Paris ist aus heutiger Sicht eine einzige Unmöglichkeit. Marlon Brando, ein amerikanischer älterer Mann, betreibt ein Hotel in Paris und beginnt eine Affäre mit einer weitaus jüngeren Frau (Maria Schneider, damals 19). Er besteht auf die Abmachung, die Affäre dürfe niemals über den Sex hinaus gehen, selbst ihre Namen sollen sie sich nicht verraten. Anscheinend basiert der Film auf Bertoluccis eigenen sexuellen Fantasien. Der Film entfachte schon bei Veröffentlichung Diskussionen über die Prämisse des Filmes selbst und die Darstellung bestimmter Szenen. Nach zwei weiteren Zigaretten und Aggression auf Marlon Brando bemerke ich plötzlich, dass sich die beiden Filme ähneln.
Noch kurz eine Erklärung für meine Abneigung zu Der letzte Tango in Paris: ca. in der Mitte des Filmes wird Maria Schneiders Figur vergewaltigt. Bei dieser Szene habe ich auch ausgeschaltet. Es wirkte zu real, nach kurzer Recherche bestätigt sich: Teile der Szene waren nicht abgesprochen. Maria Schneider erzählt in mehreren Interviews, dass ihr nicht gesagt wurde, was in der Szene passieren soll. Ihr wird ein Stück Butter zwischen die Beine geschoben, anschließend penetriert Brando sie anal. Diese Szene löste allerhand von Reaktionen aus, der Film wurde aufgrund von „Obszönität“ in mehreren Ländern nicht gezeigt und in Italien wurden Brando und Bertolucci zu Bewährungsstrafen aufgrund von Missbrauch verurteilt.
Über vierzig Jahre später erklärt Bertolucci in einem Interview, sie ließen Schneider im Dunkeln, da sie ihre Reaktion als Mädchen und nicht als Schauspielerin einfangen wollten. In 2013 entflammte eine internationale Debatte über den Film. Unterschiedlichste Frauen riefen zur Aufmerksamkeit über diesen Missbrauchs-Fall auf, auch Bertoluccis Oscar sollte ihm entzogen werden. Der eigentliche Skandal: Die bereits 2011 verstorbene Maria Schneider lebte Großteil ihres Lebens mit einem Schweigen um diesen Missstand. Schneider eröffnet erst kurz vor ihrem Tod die Zustände, denen sie unter Bertolucci und Brando ausgesetzt war. Nach Erscheinen des Filmes und momentaner Empörung, passierte eigentlich nichts. Es wird abseits des Filmes geschwiegen. So wie in dem Film selbst auch.
Auch hier schweigt eine Frau. Es ist nicht das gleiche Schweigen, in einem Fall ist es tödlich für die anderen, bei Bertolucci für die Frau selbst. In Der letzte Tango wirkt jede Szene erdrückend, vielleicht auch, weil ich eine Frau bin und den Film nicht in den Siebzigern anschaue. Die erste Sequenz des Filmes zeigt Marlon Brando auf einer Brücke, er ist gequält, wir wissen nicht wovon. Jeanne, Maria Schneiders Figur, läuft an ihm vorbei, beide in Beige. Der Raum in dem sich ihre Affäre abspielt, ist auch Beige, später begegnen sie sich in Räumlichkeiten ausschließlich in Beige, ab und zu in Senf oder orange, abhängig vom Licht.
Auch das haben beide Filme gemeinsam, sie sind nicht nur beide in quälend langen Plansequenzen gestaltet, sondern diese haben oft die gleiche Farbgebung. Alles von Senf bis zu dunklem Ocker. Ich weiß nicht wieso, aber in beiden Filmen wirken diese Farben erdrückend auf mich. Während in The Assassin Nie Yinniangs Kostüme in dunklen Farben sind und sie sich durch eine bunte Welt schlägt, ist Marias Schneiders Welt zumindest in Präsens von Brando ausschließlich gelb oder orange. Die Wärme der Farben wirkt in Brandos Wohnung, seinem Hotel, seinem Mantel als zusätzliche Bedrohung. Nie Ninniang ist in ihren dunklen Gewändern ein Kontrast zu ihren Hintergründen. Hier ist sie die Bedrohung.
Es ist nicht so, dass Jeanne gleich schweigt wie Nie Yinniang, die Spinnen-ähnliche Killerin. Sie redet viel, hält Brandos Bedingung der Geheimhaltung nur schwer aus, aber es bleibt gleich still um die beiden. Jeannes erzwungenes Schweigen über sie selbst bekommt eine weitere bittere Note. Brandos Nebenbuhler, gespielt von Jean-Pierre Leaud, ist angehender Regisseur und nutzt Jeannes Leben als Handlung für seinen Film. Kurz: Maria Schneider wird eigentlich von allen Seiten ausgenutzt. Druck von außen erfährt Nie Yinniang auch. Nach ihrer Rückkehr von abgeschlossener Ausbildung bei dem ominösen Charakter der Nonne, spürt sie den wachsenden Druck, ihren ersten Auftrag zu erfüllen. Sie soll den Gouverneur Tian Jian töten, dem sie einst als Ehefrau versprochen war. Aber von Entscheidungen zwischen Liebe und Pflicht ist Jeanne weit entfernt, sie wird rastlos zwischen Brandos erotischen Erwartungen an sie und Leauds ausbeuterischen Film-Ideen umhergetrieben.
Nie Yinniangs Schweigen liegt über dem gesamten Film. Sie beobachtet, schleicht sich an, streift durch die Schatten. Ihre stoische Miene bröckelt, wenn überhaupt, nur einmal. Sie schweigt tatsächlich und wirkt dadurch bedrohlich und stark. Jeanne dagegen schreit eigentlich konstant die sie erdrückenden Männer an, zwecklos. Ihr Schweigen oder ihre Stille ist nicht direkt. Sie schafft es nicht zu sagen, was sie will – nicht, weil sie nicht genügend Aggression hätte, ich schätze mal das Skript (natürlich auch von Bertolucci plus Co-Autor) fand keinen Platz für eine weibliche Rolle, die sich nicht den Interessen von Männern unterordnen muss. Natürlich ist der Plot zum Teil Richtlinie wie Jeanne handelt, aber der Film hätte auch anders funktioniert.
Die Affäre an sich kann auch gezeigt werden ohne mehrere Minuten langer Sex-Szenen und der darin dominanten Darstellung von Marlon Brando. Denn obwohl Jeanne die Protagonistin ist und wir beide Beziehungen durch sie sehen, sind ihrem Charakter wenig Chancen der Flucht gegeben, sie flüchtet immer nur von einem zum anderen. Mir scheint es so, trotz späterer Revanche von Jeanne. Neben Stromschlag, Ehe-Ablehnung, Trennung und zum krönenden Schluss der Mord an Brando ist Jeanne nicht frei. Sie leugnet den Mord, schweigt, um sich zu schützen. Nie Yinniang schweigt, um anzugreifen.
Beide Frauen sind getrieben, finden sich in Umständen wieder die für beide kaum zu ertragen sind. Abseits von langsamer Erzählweise und ähnlichen Farben, wirkten beide Frauen ähnlich auf mich. Sie beide wollen sich aus ihrer Unterdrückung befreien. Und das zeigt sich in den Momenten in denen sie schweigen. Ihre Sehnsüchte wollen ausgedrückt werden, die Chance dafür wird kaum gegeben.
Auch um mich ist es still. Es ist ca. Fünf Uhr morgens, schlafen kann ich nicht. Ich schweige auch, aber es brodelt, wohin mit dem was ich sagen will? Ich denke über ein neues Konzept nach: taiwaneischer Tango, ein Film, in dem Frauen beides dürfen. Schreien und Schweigen, keines von beidem tödlich.