Time to go?

Notenwenderin-Mobbing, stolpernde Chopin-Läufe und ein legendärer Anschlag: Der 81-jährige Maurizio Pollini kehrte mit einem denkwürdigen Konzert in die Mailänder Scala zurück.

Der junge Maurizio Pollini /// Pinterest (c)

Schmerzt es dir auch, dass es gar nicht so lange her war, als die klassische Kultur wirklich am Puls der Zeit waren? Politisch aktuell, richtungsweisend, kontrovers. Jelineks Burgtheater oder Bernhards Heldenplatz zum Beispiel, keine 40 Jahre her stritt noch die halbe Republik über den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Das Theater ist seitdem nicht verstummt, mit etwas Glück wird Milo Rau als neuer Festwochen-Intendant auch Wien zu alter Größe führen. In der Klassikwelt der letzten Jahre kommt an sowas in Sachen Relevanz und Reichweite höchstens die Kontroverse um Currentzis (und Netrebko) heran. Nur, dass hier nicht wie bei Jelinek oder Bernhard durch die Kunst eine abstoßende Verflechtung aufgedeckt wird, sondern die Kunst selbst verwickelt ist.

Polizei und Tumult in der Scala

Dabei kann klassische Musik auch mehr als nur schön, gesund oder interessant sein. Maurizio Pollini, ein legendärer Großmeister des Klaviers, organisierte in den wirren 60-ern und 70-ern mit Claudio Abbado Konzerte für Arbeiter*innen und Studierende in der altehrwürdigen Scala in Milano. Teilweise wurden diese Konzerte von der Polizei gewaltsam aufgelöst, nachdem Pollini in seiner Ansprache auf Vietnam eingegangen war. Das waren noch Zeiten…

Am Montag trat der mittlerweile 81-jährige Pollini noch einmal in der Scala, der Weltklasse-Oper seiner Heimatstadt auf. Nachdem er im Sommer sein Konzert bei den Salzburger Festspielen kurzfristig absagte, seitdem nur einmal auftrat und mehrmals im Krankenhaus war, roch dieser Abend förmlich nach Abschied. Auch das Programm wirkte wie ein rückblickender Querschnitt seiner Laufbahn, in der Schönberg, Nono und Chopin wichtige Meilensteine waren. Bis heute ist Pollini der jüngste Gewinner des Chopin-Wettbewerbs, seitdem gilt er als Spezialist.

Doch statt seiner Expertise zeigte er in der zweiten Chopin-Konzerthälfte drei schlechtgelaunte, zerfallende, durchgaloppierte Versionen des polnischen Romantikers. Zum Schluss spielte er das Scherzo Op. 20/1, ein Werk, das Chopin im Exil in Wien schrieb, während in seiner polnischen Heimat gegen die russische Besatzung kämpfte. So zeitgemäß diese Auswahl auch in Zeiten des Ukrainekriegs auch war, Pollini konnte sich kaum durch die vielen Noten kämpfen. Ich war zu Tränen gerührt, nur leider nicht von der Musik, sondern von dieser traurigen Situation. Niemand hat das Recht, von einem, der sein Leben der Musik gewidmet hat, den Ruhestand zu fordern, es schmerzt aber zu sehen, dass Pollini selbst nicht sieht, dass er sein eigenes Andenken zerstört.

Im Dialog mit seinem jungen Ich

Immerhin schaffte er es in der ersten Konzerthälfte, mit ... sofferte onde serene ..., einem Stück, das ihm der marxistische Avantgardestar Luigi Nono schrieb, seine alte Form wiederzufinden. Das Stück ist eine Mischung aus einer vorgefertigten Aufnahme und Livemusik. Das Besondere dabei ist, dass die Aufnahme aus den 70-ern, die Pianist*innen auf der ganzen Welt verwenden, um das Werk aufzuführen, von ihm selbst stammt. So trat er in den Dialog mit seinem jüngeren Ich und zeigte dabei, dass sein legendär klarer Anschlag immer noch in seinen Fingern steckt.

Schade nur, dass dieser berührende Moment von den Zwischenfällen zuvor überschattet wurde. Während er Schönberg spielte, fing Pollini an, die Notenwenderin anzumotzen; er war offensichtlich derart unzufrieden mit ihr, dass er sogar kurz anhielt und laut vernehmbar „Non va bene!“ und später „adesso! Adesso!“ fauchte. Das Ganze wirkte, als würde er seinen Frust über etwas anderes an sie auslassen. Gut möglich, dass es die Unzufriedenheit mit sich selbst war.

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