Wenn der Untergrund ruft
Habt ihr euch schon immer gefragt, wie das Leben für Voodoo Jürgens, Nino aus Wien und Co ist, wenn die Bühnenlichter ausgehen? Dann ist Vienna Calling vielleicht etwas für euch.
Wo spielt sich die alternative Wiener Musikszene ab? Laut Vienna Calling irgendwo zwischen altfaderischen Beiseln, Kaffeehäusern, betonierten Kraftplätzen und vor allem auf Bühnen, seien sie groß, klein, in- oder outdoor, in der Karlskirche oder der Peepshow. Konkret verfolgt man Voodo Jürgens, Nino aus Wien, EsRap, Samu Casata, Lydia Haider, Gutlauniger und Kerosin95 bei ihrem Wirken und Treiben in Wien.
Der Film beginnt mit Drohnenaufnahmen über der Stadt, die man eher selten so hypertechnologisch inszeniert sieht. Doch bevor man sich an den Ausblick gewöhnen kann, stürzt die Drohne auch schon wieder ab. Und es geht im alternativen Untergrund weiter.
Selbstinszenierung statt Objektivität
Die Liste der Musiker*innen ist begrenzt, genauso wie die Objektivität des Dokumentarfilms. Es scheint mehr darum zu gehen, einen „Vibe“ zu vermitteln, ein grindig-mystisches und gleichzeitig innovatives Image, das die Underground-Szene heraufbeschwört und für sich beansprucht. Die Musiker*innen geben wenig Einblick über ihr Privatleben (mit Ausnahme von EsRap) oder tatsächliche Arbeitsbedingungen, vielmehr inszenieren sie sich für den Blick der Kamera: Gutlauninger staubsaugt enthusiastisch seinen Garten und macht Pull-Ups mit dem Zeigefinger im leeren Swimmingpool, Kerosin95 crasht ein Schlagzeug im Brautkleid, EsRap steigen aus einem Bonzenauto mit Ziegen an der Leine. Lydia Haider erzählt uns, dass es in Wien einen Zugang zur Hölle gibt. Samu Casata plant dort seine Geburtstagsfeier. Und Voodoo Jürgens führt uns über den Friedhof, wo er früher gehackelt habe. (Also, mehr Klischee geht ja nicht, oder?) Zusammen mit der großen Fülle an Musik verschwimmt das Ganze zu einem 90-minütigen Musikvideo, das die Wiener Musikszene feiert und extrem Spaß beim Zuschauen macht.
Vielleicht ist der Blick auf das Geschehen auch durch Distanz verklärt: Regisseur Philipp Jedicke kommt aus Deutschland. Dass der Ruf der Wiener Szene im Nachbarland ein bisschen wie Disneyland ist, wird jedoch im Film angesprochen und somit Kritik etwas vorweggenommen. Und trotzdem sei alles ein bisschen wahr und keine Lüge. Lässt man sich auf dieses bisschen Wahrheit ein, kann man sich zurücklehnen und von dieser Momentaufnahme mitreißen lassen.
Denn spannenderweise wirkt der Film, der zwischen November 2020 und Novemer 2021 gedreht wurde, schon jetzt etwas aus der Zeit gefallen: Corona-Masken und die alten City-Bikes sind inzwischen aus der Landschaft verschwunden, Kerosin95 macht eine Pause auf unbestimmte Zeit. So mischt sich in die Euphorie des Films auch ein Schuss Nostalgie.
Eine helle Freude
Wer sich also einen Blick hinter die Kulissen der Wiener Musikszene erwartet, wird enttäuscht, dazu hat sich Regisseur Jedicke zu sehr von dem verklärten Blick auf die Szene einnehmen lassen, auch dass man sich auf einen engen Kreis an Musiker*innen, die darüber hinaus auch alle bei einem Label vertreten sind, beschränkt hat, ist schade. Durch die Verklärung wird auch auf eine kritischere Linie innerhalb der Doku verzichtet und den Künstler*innen, wie bereits angesprochen, breiter Raum für Selbstinszenierung eingeräumt - man bekommt tatsächlich mehr Lust auf ein Voodoo Jürgens Konzert zu gehen, als sich den Film weiter anzusehen. Der Begriff Film wird hier bewusst verwendet, weil die Inszenierung den dokumentarischen Aspekt klar überstrahlt. Wer sich aber auf den Disneyland-artigen Ritt durch Wien einlassen kann und will, wird mit Vienna Calling eine helle Freude haben, das liegt vor allem an dem Wiener “Schmäh” und den durchaus einzigartigen Charakteren.
von Philipp Kaiser & Tara Luger