Wie man das Wiener Konzerthaus auf die Beine bringt

Mr. Sweet Jazzy Voice rockte das Wiener Publikum, dass die Wände wackelten: Warum Jamie Cullum ein großartiger Livemusiker ist.

Jamie Cullum, der Posterboy der Jazzwelt /// Universal Music (c)

Den meisten fällt bei Jamie Cullum erst einmal Jazz ein. Nicht nur Jazz, sondern eine Baby-Frank-Sinatra-des-21.-Jahrhunderts-Stimme welche alles mit sich machen lässt. Seit seinem dritten Album Twentysomething aus 2003 ist er groß im Geschäft, gewann unendlich viele Preise, schrieb Filmmusik für die größten Hollywood-Schinken (Stichwort Gran Torino) und wurde für einen Golden Globe nominiert. Tatsächlich schafft der Multiinstrumentalist es seit Jahrzehnten, allerlei Musikrichtungen auszuprobieren, ohne durchzufallen – was ist sein Geheimnis?

Qualität. Der Kerl weiß einfach, was er tut – jeder Akkord, jede Bewegung, jeder Ruf und vor allem jede Note sitzt. Da gibt es kein “ups” oder Zufälle, Cullum verkauft immer noch nach jahrelanger Stille Säle aus, weil er stets sein  bestes gibt und sich nicht zu schade für harte Arbeit ist.

Wie viel Pop ist zu viel Pop? 

Nun, sich ein Jazz-Konzert im Konzerthaus vorzustellen, ist nicht schwierig. Aber im großen Saal? Mit größtenteils Pop-Musik, welche manchmal sogar an Rock angrenzt? Schon komplizierter.

Anfangs lässt die Band (Bass, Gitarre, Schlagzeug, Bläser und Backrund-Sänger*innen) mit ihrem Frontman ein paar Pop-Songs los, original und arrangiert. Vieles kommt von seinem neuen Album For the love, jedoch klingt es live um einiges wilder. Die Stimmung im Saal ist aufgeregt, aber undefiniert – viele haben drei Jahre auf das immer wieder (wegen leider äußerst bekannten Gründen) verschobene Konzert gewartet, aber wissen auch nichts mit diesem neuen Stil des Jazz-angehauchten Pops anzufangen. Cullum ist eben bekannt für sein unvergleichliches Gefühl für Jazz-Gesang und -Komposition. Der Saal wippt mit, aber große Emotionen bleiben vorerst aus.

Gekräuselte und lachende Gesichter 

...bis der Held des Abends anscheinend von der entweder etwas konservativen oder faulen Meute genug hat, kurzerhand ins Publikum herunterspringt und anfängt durch die Gänge zu tanzen und alle mitzureißen. Innerhalb von Sekunden springt der gesamte Saal auf und versucht sich mit Gewippe und Gedrehe mitzufreuen an dem Energie-Bündel, das auf Klavieren und Sitzreihen rumspringt (wortwörtlich!). Einmal aufgestanden, setzt sich niemand mehr hin – bis zum Ende des Konzerts bleiben die Sitze leer – bloß ein paar ältere Herren mit Sakko und Halstuch in den Kritikerreihen verlassen empört den Saal.

Mehr Platz für willige Tänzer*innen – die Zuschauer*innen sind nicht mehr einzukriegen, sie rufen “I love you!!” von den Rängen und tanzen so, dass wenn man kurz die güldenen Dekorationen und Luster vergisst, man glatt auch in der Stadthalle stehen könnte. Auch die Musiker*innen auf der Bühne lassen sich von diesem Phänomen mitreißen: wildes Rumgehopse, große Improvisationen und Solos, begeisterte High-Fives. Sie wirken von Wien überrascht – und Wien wirkt von sich selbst auch überrascht.

Maestro 

Kommen wir zurück zu Jamie Cullums Qualität. Es wirkt einfach, etliche Alben mit ruhigen Balladen aufzunehmen, welche tausendmal bearbeitet und hergerichtet werden können. Erst bei Live-Konzerten kommt das wahre Können eines Musikers raus, egal wie exzentrisch oder auffallend er ist. Jamie Cullum im Gegensatz ist weder besonders exzentrisch noch sehr auffallend, aber wenn er die Bühne betritt, dann nur um sein Bestes zu zeigen. Seine beste Stimme (mit einer Reichweite von Höhen und einer Palette an Farben, die zutiefst beeindruckend sind), seine beste Show (jede Bewegung sitzt, jedes Lachen, jeder Sprung), seine besten Fähigkeiten (Songs erfolgreich zu schreiben oder zu covern frisst mehr Kraft als man erwarten würde.).

Obwohl die Pop-inspirierten Lieder nicht zu meinen Favoriten dazugehören, waren die langsamen Solo-Balladen umso herzzerbrechender. Eine Stimme die bis auf die Knochen gehen kann und ein virtuoses Klavierspiel mit perfektem Timings – das macht für mich einen echten und vor allem guten Künstler aus, der seinen Ruhm verdient hat. Chapeau, Jamie Cullum!

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