Zwei Blicke auf den Abgrund
Gaspar Noé liefert mit Vortex einen der besten Filme des Jahres. Er schafft es in seinem bislang reifsten und intimsten Werk durch herausragende filmische Experimentierfreudigkeit eine interne wie externe Sicht auf die Demenz zu vermitteln.
29 Oktober, Gartenbaukino (Viennale)
Vortex. So heißt der neue Film des vor allem in Frankreich tätigen argentinischen Regisseurs Gaspar Noé (Irreversible, Climax). Auf der Viennale lief er auch unter dem Titel Au Bord Du Monde – am Rand der Welt. Ein Titel, den der Regisseur direkt nach dem Screening entschlossen zurückwies – schließlich diente er nur dazu, dass ihm der eigentliche Titel während der Produktion nicht gestohlen werde. Noés Name ist in der Öffentlichkeit fest mit den scheußlichen Zuschreibungen des „Provokateurs“ und „Skandalfilmemachers“ verbunden. Doch in seinem neuen Werk beweist er – neben seiner schwer widerlegbaren handwerklichen Raffinesse – wie viel Respekt der als „Enfant terrible“ abgestempelte Regisseur sowohl seinen Figuren als auch seinem Publikum zollt.
Zunächst typisch Noé
Vortex beginnt wie ein typischer Noé. Zunächst betrachten wir etwas verwunderten Zuschauer*innen die an den Filmbeginn vorgezogenen Credits (wie in Irreversible und Climax), das Bild wird von erdigen Tönen dominiert und wir lauschen einer etwas verwirrenden – wenn auch netten – scheinbar vom Restfilm gelösten nostalgischen Gesangseinlage. Zudem amüsieren wir uns etwas darüber, dass Noé das Geburtsjahr von sich selbst wie auch seiner Darsteller*innen einblendet. Ein scheinbar zynischer Gag. Der typische, mit Noé assoziierte Zynismus scheint direkt seine Klimax (pun inteded) zu erreichen, wenn er dem Film eine Widmung an all jene, deren Gehirn vor dem Körper verrotte, voranstellt. Wir sehen nun auf der normalen vereinten Leinwand ein altes Ehepaar, welches sich scheinbar alltäglich unterhält. Kurz danach spaltet sich die Leinwand jedoch in zwei getrennte nebeneinanderliegende Bilder auf, die jeweils eine der beiden entfremdeten Senior*innen beobachten. Uns wird schnell klar, dass es sich wohl doch um kein zynisches, primär an der Transgression orientiertes Kino, sondern um Noés wohl intimsten und (auf verstörende Weise) sanftesten Film handelt.
In Vortex geht es um die tragischen letzten Tage eines alten namenlosen Ehepaares. Er ist ein körperlich gebrochener Filmakademiker (gespielt vom legendären Dario Argento) und sie ist eine an Demenz erkrankte ehemalige Psychiaterin (Françoise Lebrun). Er ist körperlich am Ende, sie ist geistig am Ende. Seine Tage verbringt er meist im Sitzen. Sie hingegen ist meist körperlich dynamisch, aber durch ihre Krankheit zu einem ewigen Umherirren durch ihre fragmentierte Realität gezwungen. Er versucht in seinem Alltag ein Buch über den Zusammenhang von Film und Traum zu schreiben, wovon er jedoch oft von der Krankheit seiner Partnerin gehindert wird. Manchmal bekommen sie auch Besuch des drogenabhängigen Sohnes (Alex Lutz) und des sehr jungen Enkelkinds.
Der Splitscreen bietet dem Publikum Autonomie
Diese Geschichte wird fast ausschließlich mit dem anfangs erwähnten Split-Screen-Verfahren erzählt. Jenes Mittel, das wir auf der Viennale beispielsweise bereits in einzelnen Szenen von Jacques Audiards Les Olympiades gesehen haben – schließlich handelt es sich um eine Technik, die durchaus hin und wieder Verwendung findet. Außergewöhnlich ist es jedoch, dieses Mittel auf den Großteil der Laufzeit eines filmischen Werks anzuwenden. Ein frühes Beispiel wäre hier sicherlich Andy Warhols und Paul Morrisseys Undergroundklassikers The Chelsea Girls. Auch Noé griff schon in seinem vorangegangenen mittellangen Film Lux Æterna zu einer intensiven Verwendung besagter Technik.
Interessant ist diese direkteste Form der Parallelmontage vor allem durch die Autonomie, die sie uns als Publikum ermöglicht. Wir können als Zuschauende stetig entscheiden, welches Bild wir betrachten wollen und werden somit direkt zu kreativen Miturheber*innen des von uns wahrgenommenen Werks. Natürlich versucht der Film auch durch ein paar Mittel unseren Blick etwas zu lenken, wenn beispielsweise ein lautes Husten einer Figur ertönt oder eine große Diskrepanz zwischen der Bewegungsdynamik der beiden Bilder herrscht. Durch die Verwendung des Split Screens wird der von mir anfangs erwähnte enorme Respekt Noés ersichtlich, da er uns als Publikum scheinbar zutraut, gemeinsam mit ihm Vortex als Erfahrung zu gestalten. So wenig werden wir wohl nur von den allerwenigsten Filmen bevormundet. Eine solch intensive Freiheit des Blicks bieten neben diesem Verfahren wahrscheinlich nur Godards 3D-Experimente (Adieu Au Langage). Sonst bedarf eine direkte Beeinflussung des Bildes nämlich immer eines externen Mediums, wie in diesen seltsamen Fernsehproduktionen, über deren Verlauf mit irgendwelchen Online Abstimmungen oder so bestimmen kann.
Leider muss man jedoch festhalten, dass unsere Blickfreiheit in Vortex durch die Untertitel etwas eingeschränkt wird, denn diese lenken unseren Blick immer wieder in das Zentrum des Bildes, wobei wir in keine der beiden Realitäten angemessen eintauchen können. Man muss also entweder Französisch können oder die Möglichkeit in Betracht ziehen, eine synchronisierte Fassung zu sichten - und das sage ich als sehr dogmatischer Filmkonsument.
Interessante Beobachtungen über den eigenen Blick
Die freie Entscheidung über die Platzierung des eigenen Blicks lässt in diesem Film eine interessante kritische Reflexion des eigenen Sehverhaltens zu. Man kann hier ganz genau beobachten, welche Art von Handlung oder Geräuschen den eigenen Blick lenken oder von welcher Art von Bild wir am stärksten gefesselt werden. Wir können also aus Vortex sogar eine kleine Selbsterkenntnis gewinnen.
Mir ist bei dieser Beobachtung aufgefallen, dass mein Blick zunächst meist auf Argentos Figur fiel. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass er mir durch seine filmakademische Profession, seine beeindruckende Filmposter-Sammlung und seine Buñuel-Besessenheit einfach ein großes Identifikationspotenzial bietet oder ob mein männlicher Blick dafür verantwortlich ist. Vielleicht sehnte ich mich auch einfach danach, dem tragischen Wandeln der somnambulen Frau in Richtung einer sich immer weiter verschlimmernden Krankheit zu entfliehen. Nach etwas Reflexion entschloss ich mich, meinen Blick nun primär auf die Frau zu richten.
Ein Blick auf die Demenz und ein Blick der Demenz
Diese kleinen Experimente mit dem eigenen Blick sind jedoch nur eine Randerscheinung gegenüber der massiven narrativen Brillanz, die Noé mit seinem Split Screen hervorbringt.
Denn er schafft es zu fast jeder Sekunde gleichzeitig einen Blick der Demenz (Blick der Frau) als auch einen Blick auf die Demenz (Blick des Mannes) zu ermöglichen. Die meisten Filme über das Thema entscheiden sich nur für einen dieser beiden. Die oftmals faden, altmodisch wirkenden Demenzfilmen bedienen sich lediglich eines Blicks auf die Demenz, was beispielsweise in der externen Sicht auf den Großvater in Til Schweigers Honig im Kopf äußert. Modernere und empathischere Filme zum Thema wie der sehr gelungene The Father bedienen hingegen den Blick der Demenz, indem sie versuchen, die Realität der Betroffenen zu verstehen, zu respektieren und empathisch filmisch umzusetzen. Noé entscheidet sich jedoch nicht für einen der beiden Blicke, sondern er vereint sie kurzerhand, womit Empathie und direkte Nähe durch den Blick der Demenz sowie die Auswirkungen auf das Umfeld durch den Blick auf die Demenz ermöglicht wird. Damit wird klar, dass Noé seine zynisch formulierte Solidaritätsbekundung am Anfang des Filmes durchaus ernst meint und konsequent eine angemessene, respektvolle Auseinandersetzung mit der Krankheit sucht – dies mag auch mit der Erfahrung der Krankheit seiner eigenen Mutter zusammenhängen. Er schlägt sich klar auf die Seite der Erkrankten.
Eine Kamera, die als Geist agiert
Die Kamera nimmt in Vortex gespaltenem Bild eine interessante Rolle ein. Zunächst scheint sie personenbezogen zu sein. Die eine Seite zeigt den Mann, die andere die Frau. Es wird jedoch schnell klar, dass sie den Figuren nicht fest verbunden ist, sondern öfters Perspektivenwechsel vornimmt. Sie scheint eher ein einsamer Geist zu sein, der die Wohnung der beiden besiedelt und immer wieder Besitz bestimmter Personen ergreift, uns deren Perspektive vermittelt und aufgrund der Tragik der
Situation doch irgendwann wieder aus ihren Körpern zurückweicht. Ähnlich ging Noé auch schon in Enter the Void vor, in dem die Kamera jedoch an den Geist des verstorbenen Protagonisten gekoppelt ist. Es kommt durch diese Perspektivenwechsel zudem zu einer Sabotage unserer räumlichen, zeitlichen und personenbezogenen Orientierung, zu einer Vermittlung des Gefühls des Verlorenseins. Oder vielleicht will Noé uns auch einfach ab und zu aus unserem melancholischen Rausch wachrütteln…
Vortex Kamera ist außerdem in den allermeisten Szenen auf die Figuren gerichtet. Man könnte hier meinen, dass vielleicht eine Point-of-View-Perspektive wie in Enter the Void das effektivste Mittel wäre, die subjektive Realität der Figuren darzustellen. Das ist aber ein Trugschluss! Es würden nämlich die wirklich großartigen Leistungen der beiden Hauptdarsteller*innen verloren gehen, wenn die Sicht der Figuren der von Argentos ledernen Händen in seinen Gialli gleichen würde. Gerade Lebruns Schauspiel ist monumental und dürfte unter keinen Umständen geschmälert werden.
Desorientierung des Publikums
Zur Darstellung der Desorientierung verwendet Noé, neben der bereits erwähnten „Geisterkamera“ eine bemerkenswerte Form der Montage, wobei jeder Schnitt durch eine relativ lange Schwärze zwischen den Einstellungen einem Augenblinzeln gleicht. Zudem kommt es zwischen zwei Einstellungen – wie bei den Perspektivenwechseln der Kamera – zu einer Simulation der Orientierungslosigkeit der weiblichen Protagonistin, indem es zu Perspektiven-, Raum- und Zeitsprüngen kommt. Auch auditiv ist diese Desorientierung brillant umgesetzt. Der Split Screen ermöglicht zwar die gleichzeitige Darstellung zweier visueller Perspektiven, aber wir hören trotzdem natürlich nur eine Tonspur. Wir wissen nie aus welchem Bild gerade welcher Ton kommt. Beide Realitäten vermischen sich so in einem auditiven Ganzen. Wir haben eine Außensicht auf die Körper, aber eine durch Ton, Montage und den freien „Kamerageist“ hervorgerufene gleichzeitige Innensicht der Figuren.
Vortex ist ein Film, der wohl mindestens vier Sichtungen fordert. Eine erste, in der man sich auf ihn einlässt, zwei weitere, um den einzelnen Bildern konsequent zu folgen und eine vierte, um die gewonnenen Erkenntnisse in einem Gesamtbild zu vereinen. Doch auch nach einer einzigen Sichtung verleitet Vortex mich fast zu einem Auspacken von Superlativen. Gaspar Noé ist wohl der einzige „Mainstreamregisseur“, der es wagt, ein solch ambitioniertes (eigentlich mit der Avantgarde verknüpftes) Formexperiment durchzuführen - und dem das alles dann auch noch gelingt! Er schafft es wohl, eine der besten und umfangreichsten (mir bekannten) Darstellungen von Demenz im bisherigen Kino zu schaffen. Zudem scheint er in seinem weitgehenden Verzicht auf Zynismus deutlich gereift zu sein (was seine anderen Filme in keiner Weise abwerten soll). Doch nehmt euch in Acht! Sein Blick auf das Leben ist mit dieser Reifung noch nihilistischer geworden. Während er in Enter the Void noch das Leben als ewigen Kreislauf inszenierte, verzichtet er nun auf jegliche utopischen Ideen. Ohne zu viel zu verraten: Macht euch auf eine existenzielle Krise gefasst!