Große Kunst oder Selbstkarikatur?
Zwischen Zerstörung, Innovation und Moral: Teodor Currentzis und Romeo Castellucci versuchen mit einer radikalen Interpretation des Don Giovanni ihr Image als unkonventionelle Erneuerer zu verteidigen.
Ein riesiger Kirchenraum ist auf die Bühne des Großen Festspielhauses in Salzburg gebaut. Bevor Mozarts Musik beginnt, werden die Kirchenbänke hinausgerollt, die Statuen abtransportiert, die Reliquien entfernt. Als das Jesuskreuz abgenommen und herausgetragen wird, setzt die düstere Don-Giovanni-Ouvertüre ein. Mozarts Musik schlägt ins heitere Allegro um, eine Ziege galoppiert über die Bühne und profaniert die leergeräumte Kirche. Im Verlauf des ersten Aktes erscheinen unerwartete Objekte im Kirchenraum. Basketbälle und ein Klavier fallen lautstark von der Decke. Ein Auto, eine Kutsche sowie ein Kopiergerät schweben durch den Raum. Neben der Ziege haben zwei Pudel und eine Ratte ihren Auftritt.
Irritieren, zerstören, neu ordnen
Regisseur Romeo Castellucci ist mit seinen symbolstarken, rätselhaften und bildgewaltigen Inszenierungen berühmt geworden. Der Verführer Don Giovanni ist in seinen Augen eine Figur, die ihr Umfeld irritiert, zerstört und neu ordnet. Der profanierte Kirchenraum, in dem immer neue Fremdkörper auftauchen, ist als Metapher zu verstehen: Don Giovanni setzt die bestehende (christliche) Ordnung außer Kraft und schafft Raum für Neues.
Der umstrittene Dirigent Teodor Currentzis liefert mit seinem Utopia Orchestra einen Soundtrack, der überraschend genau diese erschütternde Wirkung Don Giovannis widerspiegelt. Currentzis wählt für die altbekannte Musik Mozarts eigenwillige, extreme Tempowechsel und scharfe Akzentuierungen. So erzeugt er immer wieder unerwartete Spannung und flirrende Energie, obwohl (oder gerade weil) er die musikalische Linie Mozarts immer wieder zerstört. Teodor Currentzis und Don Giovanni sind ambivalente Kräfte, die zerstören und zugleich Neues ermöglichen. Die musikalische Risikofreude ist im Kontext der Salzburger Festspiele, in dem ansonsten Perfektion herrscht, umso auffälliger. Wer die 2016 unter Currentzis’ Leitung entstandene Aufnahme des Don Giovanni kennt, wird überrascht sein, wie stark radikalisiert seine Interpretation 2024 in Salzburg ist. Currentzis’ Versuch, sein Image als unkonventioneller Erneuerer zu wahren, lässt sein Dirigat gefährlich oft wie eine ungewollte Selbstkarikatur wirken.
Feminin, aber nicht feministisch
Nach der Pause ist die Kirchenarchitektur mit einem sanft wehenden Vorhang verhangen. Nicht nur die szenische Ästhetik ist jetzt reduzierter, auch Currentzis’ Dirigat hat sich beruhigt. Auf der Bühne stehen nun neben den Sänger*innen etwa 130 Statistinnen, die in langen weißen und rosaroten Kleidern, die von Don Giovanni verführten Frauen symbolisieren. Im ersten Akt noch bloße Zahlen in einer Statistik, erhalten sie im zweiten Akt durch die Statistinnen Gesichter und sollen so der Anonymität entrissen werden. So unterschiedlich die Frauen sind, eint sie die Erfahrung, von Don Giovanni verführt worden zu sein. Während der meisterhaft von Nadezhda Pavlova gesungenen Arie Non mi dir, bell'idol mioversammeln sich die Frauen um die Sängerin und eine feminine Utopie entsteht - eine feministische wäre weitaus interessanter gewesen. Kurzfristig resultieren aus Don Giovannis Handlungen weibliche Allianzen. Dass Romeo Castellucci am Ende der Oper, nach Don Giovannis Tod, in Bewegung erstarrte Gipsleichen auf die Bühne legt, postuliert die Unmöglichkeit von Weiterentwicklung ohne die zerstörerisch-schöpferische Kraft Don Giovannis.
Die Massenchoreographien von Cindy Van Acker, in denen sich die Statistinnen über die Bühne bewegen, sind beeindruckend anzusehen, aber ihnen fehlt letztlich die Tiefe. Die Statistinnen bleiben stumm und in den einstudierten Bewegungsabfolgen weitgehend passiv. Es werden stereotype Weiblichkeitsbilder hyperästhetisiert, die anstatt emanzipatorische Aspekte zu beinhalten, viel mehr den male gaze bedienen. Das Inszenierungsteam wird dem Anspruch, eine Darstellung von Geschlechterrollen zu liefern, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist, nicht gerecht. Romeo Castellucci erschafft in gewohnter Manier ein Wimmelbild an Symbolen und Assoziationen. Manche Regieeinfälle wirken plakativ, während andere sehr klug platziert sind. Auch wenn ein paar Symbole unverständlich bleiben, gelingen Castellucci intensive Bilder, die stets beeindruckend anzusehen sind und manchmal mehr, manchmal weniger zum Nachdenken einladen.
Der Star des Abends? Pavlova
Trotz der zahlreichen musikalischen Wagnisse weiß Currentzis genau, wann es klüger ist, sein Orchester zurückzunehmen. Wenn die erstklassigen Solist*innen in ihren Arien allein auf der riesigen Bühne des (wirklich) Großen Festspielhauses singen und dabei vom ganz zart spielenden Utopia Orchestra begleitet werden, kommt eine berührende Einsamkeit zum Ausdruck, die ihresgleichen sucht. Auf diese Weise beeindruckten die Sopranistinnen Federica Lombardi und Anna El-Khashem sowie der Tenor Julian Prégardien mit ihren klaren, warmen Stimmen. Unbestrittener Star des Abends war jedoch Nadezhda Pavlova als Donna Anna, die in ihren Koloraturen technische Perfektion mit emotionalem Ausdruck einzigartig verband.
Als Don Giovanni vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen Premiere feierte, spielte im Orchestergraben das Ensemble MusicAeterna und nicht das Utopia Orchestra. Beide Orchester wurden von Currentzis gegründet. Ersteres ist aufgrund seiner finanziellen Abhängigkeit von russischen Mäzenen und staatsnahen Institutionen für den westlichen Konzertmarkt untragbar geworden. Letzteres wurde in Folge dessen speziell für Auftritte in der EU von Currentzis ins Leben gerufen und wird demnächst Konzerte in Berlin, Baden-Baden, Stuttgart und München sowie eine Opernpremiere in Paris spielen.
Unmoralische Künstler. Morallose Kunst?
Teodor Currentzis arbeitet aber nach wie vor vorwiegend in Russland und ist ein Profiteur von Putins Regime. Gegen den russischen Angriffskrieg hat er sich nie öffentlich ausgesprochen. Seine Zusammenarbeit mit dem Wiener Konzerthaus endete bereits im Sommer 2023, sein Auftritt bei den Wiener Festwochen 2024 wurde abgesagt. Currentzis’ Anstellung als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters endete in dieser Spielzeit, sein Nachfolger soll dort ausgerechnet François-Xavier Roth werden, dessen Engagement als Generalmusikdirektor in Köln nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung einvernehmlich vorzeitig beendet wurde.
Dass gerade in Salzburg, wo mit den beiden Dostojewski-Opern Der Spieler und Der Idiot aufgezeigt wurde, dass gerade in Zeiten des Krieges eine produktive Auseinandersetzung mit russischer Literatur und Musik stattfinden sollte, einer so umstrittenen Person wie Currentzis eine Plattform geboten wird, ist fragwürdig. Wenn künstlerische Fragen über ethische Fragen gestellt werden, verliert die Kunst ihren Wert. Currentzis und Roth sind nur zwei Beispiele für die umstrittenen Stars der Klassikszene; sie sind ambivalente zerstörerisch-schöpferische Kräfte. Damit Kunst innovativ sein kann, muss Bestehendes neu angeordnet, verschoben und weitergedacht werden. Im Zerstören, Umsortieren und Ableiten darf aber nie der moralische Kompass verloren gehen, andernfalls entsteht lediglich oberflächlich interessante Kunst (nichts gegen eine tolle Oberfläche). Eingelullt von Romeo Castelluccis teils undurchsichtigen Bildwelten und gebannt von den neuen Energien, die Teodor Currentzis in Mozarts Musik aufspürt, dankte das Publikum in Salzburg dem Skandaldirigenten mit viel Applaus für seine unkonventionelle Interpretation. Wenn es nach dem Publikum geht, ist in Salzburg also alles in bester Ordnung.