Nemo.live
Die neueste Inszenierung von der Regisseurin der Pandemiesensation Werther.live, Cosmea Spelleken, erzählt von Weltflucht und zeigt einen Kindheitsheld im neuen Licht.
Ausfahrt in blühende Unterwasserlandschaften /// Luiza Puiu ©
Wir alle verstecken uns mal von der Welt, ob nach einem langen Tag auf Netflix, im Klo auf der Arbeit oder ohne Instagram im Urlaub. Aber manche Menschen leben eine extreme und konstante Weltflucht: Schweigemönche, Into-The-Wild-Charaktere und auch Kapitän Nemo in Jules Vernes 20 000 Meilen unter dem Meer. Als Kind fand ich diese rätselhafte Figur beim Lesen besonders faszinierend, auch in Cosmea Spellekens neuester Inszenierung am Landestheater Niederösterreich ist daraus eine spannende Figur geworden. Genau so habe ich ihn damals vorgestellt, wie Lukas Walcher in seinem riesigen, schwarzen Mantel aus der Dunkelheit zum ersten Mal erschien, um seine drei Gäste/Gefangene auf seinem U-Boot zu begrüßen. Nemo hat sich ein U-Boot gebaut in einer Zeit, als es noch keine gab, aus dem er die menschenleere Unterwasserwelt beobachtet und erforscht.
Einst mein Held, jetzt erweckt Nemo eher Mitleid
Aber zur altbekannten Faszination kam diesmal ein neues Gefühl: Mitleid. Welche Traumata, welche psychischen Probleme Nemo auch immer dazu trieben, sich für den Rest seines Lebens auf einem High-Tech-U-Boot unter dem Meer vor der Menschheit zu verstecken, sie machten ihn jedenfalls zu einem leidenden Wrack, der noch dazu von Rache getrieben ist. Ein bisschen, wie der Graf von Monte Cristo von Dumas, der gerade in einer kitschig-blöden Neuinszenierung in den Kinos läuft. Auch er war einer meiner Lieblingshelden, der mir mit seinen Rachegelüsten mittlerweile ziemlich unsympathisch ist.
Nemo ist immerhin nicht ganz so eindeutig ein Arsch, besonders nicht in dieser Inszenierung. Er ist ein Kommunist, unterstützt die Unterdrückten dieser Welt, wie er nur kann. Doch diese krankhafte Abkapselung von der Welt (vielleicht ein wenig vergleichbar mit meinem Traum aus meiner letzten Kolumne, auf Sizilien zu verschwinden) scheint mir keine gute Lösung zu sein.
Bromance oder homoerotische Anziehung? /// Luiza Puiu ©
Auch die Wissenschaft kann so ein Emigrationsort sein, das kenne ich von der Musikwissenschaft, das zeigten auch die beiden Biolog*innen im Stück, Professor Pierre Aronnax (Julian Tzschentke) und Conseil (Marthe Lola Deutschmann). Letztere wurde von Spelleken umgegendert, das Original ist eine reine Würstchenparty. Damit versetzt Spelleken Aronnax geschickt in die Mitte einer angedeuteten Dreiecksbeziehung: Er und Nemo verbindet eine starke, wahrscheinlich nur platonische Liebe, während auch Conseil und der Professor offensichtlich mehr als nur Kolleg*innen sind.
Roadmovie ohne Road
Cosmea Spellekens digitales Theaterprojekt Werther.live war eine mittelgroße Theatersensation im zweiten Lockdown, SZ, taz und sogar Harpers Bazaar haben berichtet, wir sowieso. Der Hype war verdient, Spelleken ist eine Meisterin ihres Faches und mittlerweile eine Freundin von mir, ich hätte das Stück aber verrissen, wenn es schlecht gewesen wäre. Glaub‘s mir oder glaub’s mir nicht… Apropos Fach, eigentlich ist Cosmea eine gelernte Filmregisseurin, sie beendet gerade ihr Regiestudium am Max Reinhardt Seminar. Das merkt man auch an dieser Inszenierung, es gibt stimmungsvolle Live-Videos aus den vier Aquarien, die auf der Bühne stehen, eine runde LED-Wall und vorher aufgenommene Monologe aus dem Off, die sie zu einem bewegenden, lustigen und nie langweiligen Ganzen verwebt. Man folgt den vier Charakteren bei diesem Roadmovie ohne Road aber mit etwas Movie durchweg gespannt. Wie auch der Karriere von Cosmea Spelleken: Ihre Arbeiten in der nächsten Saison sind noch geheim, aber höchstwahrscheinlich auch wieder sehenswert.
Für den 24. Mai gibt es noch Tickets, weitere Termine werden noch angeboten.