125 Jahre Lotte mit den Scherenhänden
"Meine Hände gehen schon so lange mit der Schere um, dass sie von ganz allein wissen, was sie tun müssen.“ ~ Lotte Reiniger
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Lotte wer?
Charlotte Eleonore Elisabeth Reiniger wuchs in Charlottenburg (Berlin) auf und wurde im Laufe ihres Lebens zu einer international anerkannten Filmpionierin. Mit Die Abenteuer des Prinzen Achmed brachten sie und ihr Mann 1926 den ersten abendfüllenden Trickfilm der Filmgeschichte ins Kino – mehr als zehn Jahre vor Disneys Märchenfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937). Die Berliner Zeitung nennt sie die „bekannteste unbekannte Künstlerin der Filmgeschichte“. Im Jahr 2024 waren es 125 Jahre Lotte Reiniger (*1899).
Laufen lernen
Bereits als Kind interessierte sich Reiniger für Schattentheater, Scherenschnitte und die chinesische Kunst des Silhouettenpuppenspiels: "Mein Vater nahm mich oft mit zu seinen Freunden in deren Ateliers in der Kunstakademie und so erwachte mein Interesse an den optischen Künsten sehr früh. […] Mein Enthusiasmus für Shakespeare veranlasste mich, ein einfaches Schattentheater zu konstruieren, um Szenen aus den Stücken daraus zu spielen."
Die Faszination Kino schloss sich eilig an und ebbte nie ab. Mit Fünfzehn hörte sie in einem Vortrag Paul Wegeners erstmals von der Kunst des Animationsfilms. Rückblickend sagte sie in einem Interview 1981 über den Schauspieler und Regisseur: „Paul Wegener nahm sich meiner in der rührendsten Weise an.“ Ebenso erwähnte sie mit einem zarten Lächeln in diesem Gespräch, dass sie mittlerweile ein wenig beschämt darüber sei, wie aufdringlich sie gegenüber Wegener mit ihren Silhouetten war. Zu der Zeit war sie erst 19 Jahre alt.
Wegener vermittelte sie an das Berliner Institut für Kulturforschung. Am Institut findet Reiniger ihren eigenen Rhythmus im Trickfilm. 1918 animierte sie für ihn die Ratten und die Zwischentitel für seinen Stummfilm Der Rattenfänger von Hameln“ Im folgenden Jahr setzt sie mit Das Ornament des verliebten Herzens ihr erstes eigenes Werk in Szene.
Unter den Begegnungen am Institut – mit Hans Cürlis, Bertolt Brecht und anderen – ist eine prägend: Carl Koch. Er wurde 1921 ihr Ehemann und blieb bis zu seinem Tod ihr engster kreativer Partner. Während viele Männer dieser Zeit die Kreativität ihrer Frauen für sich beanspruchten, entschied sich Koch für den Hintergrund: „Meine hauptsächliche Filmtätigkeit ist die Zusammenarbeit mit meiner Frau Lotte Reiniger.“
Achmed (1926)
In den 20er-Jahren arbeitet sie an kurzen Märchenverfilmungen. Die „Märchen aus 1001 Nacht“ haben Reiniger zu ihrem berühmtesten Film inspiriert. 1923 beginnt sie mit ihrem Mann das Projekt ihres ersten abendfüllenden Silhouetten-Animationsfilms „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, der ihr zu mehr Popularität verhalf und wohl zu ihren bekanntesten Produktionen gehörte. Nach 300.000 Einzelaufnahmen war der Film 1926 fertiggestellt und wurde in der Berliner Volksbühne uraufgeführt. Anschließend zog er um die Welt. Der deutsche Kinemathekverbund zählt ihn zu den 100 bedeutendsten deutschen Filmen und stuft ihn zudem als filmhistorisch relevant ein.
Der scheintote Chinese (1928)
Der scheintote Chinese ist der erste erhaltene queere Kurz-Animationsfilm. Der Film basiert wie Achmed auf einer Geschichte aus 1001 Nacht. Es geht um den Hofnarren des Königs, der eine Gräte verschluckt.
aus Lotte Reinigers Der scheintote Chinese 1928 © absolut MEDIEN
Lotte Reiniger verlegte den Schauplatz der ursprünglichen persischen Erzählung nach China – womit aus heutiger Perspektive eine gewissen klischeebehafteten Bildsprache einhergehen mag. Dabei verändert sie grundlegend die Beziehungen zwischen den Figuren: Während in der Vorlage der Protagonist ausschließlich als kleinwüchsiger Hofnarr Ping Pong erscheint, wird er in Reinigers Fassung zugleich als Geliebter des Kaisers dargestellt. Anstelle eines Konflikts, der mit einer Gräte seinen Anfang nimmt, setzt bei ihr die Übergabe einer Liebesgabe des Kaisers an seinen Liebling die Handlung in Gang. Die Geschichte entwickelt sich in einem tragikomischen Bogen und findet ihren Abschluss in einem besonderen Happy End: ein Kuss der beiden wiedervereinigten Männer.
Am 4. Mai 1929 feierte „Der scheintote Chinese“ seine Uraufführung in einer Nachtvorstellung im Berliner Kino Alhambra. Zeitgenössische Kritiken lobten den siebenminütigen Kurzfilm als „bezauberndes Silhouettenspiel“. Der abschließende Kuss jedoch blieb unerwähnt.
Reiniger verriet in einem Interview ihre Intention für den Film: „Natürlich kannte ich viele homosexuelle Männer und Frauen aus der Film- und Theaterwelt in Berlin und habe gesehen, wie sie unter Stigmatisierung gelitten haben. Im Gegensatz dazu war ich fasziniert davon, wie die Liebe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts in 1001 Nacht beschrieben wurde. Darum dachte ich, lasst uns locker und aufrichtig und ehrlich bei dem Thema sein. Ich vermute, als der Kaiser Ping Pong geküsst hat, war das der erste glückliche Kuss zwischen zwei Männern im Kino – und ich wollte, dass das ganz ruhig passiert, damit Kinder – von denen einige homosexuell werden würden und einige nicht – es als eine normale Begebenheit sehen könnten und nicht schockiert oder beschämt sein würden.“
Die Kunst
Die frühen Filme von Lotte Reiniger trugen starke Züge des filmischen Expressionismus der 20-er Jahre. Mit der Zeit wandte sie sich jedoch einer Bildsprache zu, die stärker von Romantik und Jugendstil geprägt war. In diesem feinen, filigranen Ausdruck adaptierte sie einige der bekanntesten Märchenklassiker, etwa von den Brüdern Grimm und Hans Christian Andersen.
Reiniger realisierte ihre Animationen in ihrem heimischen Atelier auf einem selbstgebauten Tisch. Eine von unten beleuchtete Glasplatte diente als Bühne für die aus schwarzer Pappe ausgeschnittenen, beweglichen Figuren, die sie schrittweise verschob, während eine oberhalb des Tisches angebrachte Kamera jede Bewegung aufnahm. Für ihre frühen Stummfilme benötigte sie dabei 16 Einzelaufnahmen pro Sekunde. Im höheren Alter sprach sie sogar von 24 Bildern pro Sekunde, obwohl auch die Anzahl bei Tonfilmem wie Papageno variierte, weil sie auf die Musik zugeschnitten werden musste. Auf Nachfragen zu der Aufwendigkeit ihrer Arbeit betonte sie: „Wir hatten keine Maschinen, wir machten alles mit unseren Händchen.“
Darüber hinaus entwickelte sie die erste Multiplan-Kamera, mit der es möglich wurde, den Animationen durch übereinanderliegende Schichten eine räumliche Tiefe zu verleihen. Diese Technologie sollte später das zentrale Instrument in den animierten Welten von Walt Disney werden.
Reiniger blickte auf die späten Jahre der Weimarer Republik und die in dieser Zeit entstandenen Filme zurück – jene zählte sie zu den glücklichsten ihres Lebens.
Krieg
Zu Beginn der NS-Zeit entschieden sich Carl Koch und Lotte Reiniger, Deutschland zu verlassen. „Mir passte diese Hitler-Veranstaltung nicht, und ich hatte viele jüdische Freunde, die ich nun nicht mehr Freunde nennen durfte“, erklärte sie später. 1935 emigrierten sie nach London, konnten dort jedoch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten. 1943 führte ihre Flucht sie weiter nach Paris und Rom, wo sie enge Kontakte zu anderen Künstlern pflegten.
Weihnachten 1943 kehrte das Paar gezwungenermaßen nach Berlin zurück, um Reinigers kranke Mutter zu versorgen. Dort entstand 1944, unter dem Druck der nationalsozialistischen Regierung, der zehnminütige Propagandafilm Die goldene Gans, eine unvollendete Adaption eines Grimm’schen Märchens. Nach Kriegsende arbeitete Reiniger von 1945 bis 1948 für die Berliner Schattenbühne.
Das Danach
1949 ließen sich Reiniger und Koch erneut in London nieder. Dort produzierte sie zahlreiche Märchenfilme für die BBC und etablierte sich zudem als Illustratorin. Auch für Theater in Glasgow und Coventry entstanden in dieser Zeit Silhouetten-Kurzfilme. 1955 schuf sie ihren ersten Film mit farbigem Hintergrund.
In Deutschland gerieten ihre Werke nach dem Krieg zunehmend in Vergessenheit. Erst nach dem Tod Carl Kochs im Jahr 1963 wurden ihre Filme allmählich wiederentdeckt, weshalb sie schließlich in den 1970er-Jahren zurück kehrte und sich erneut dem Scherenschnitt widmete. Besonders Mozarts Opern inspirierten sie zu einem umfangreichen Zyklus aus 140 Scherenschnitten mit Szenen aus Così fan tutte, Don Giovanni, Figaros Hochzeit und Die Zauberflöte (1973). Ihr letzter Film Die vier Jahreszeiten entstand 1980 – ein Jahr vor ihrem Tod.
Liebe Lotte
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Nicht nur von ihren Figuren ließ sie sich gerne verführen. Nach ihrem Tod wurden zufällig in Berliner Archiven Briefe gefunden, aus denen sich eine bislang unbekannte Facette Lotte Reinigers lesen ließen. Im analogen Austausch mit einer Schauspielerin zeigte sich eine intensive, leidenschaftliche Liebe zu einer Frau. Solche Briefserien fanden sich auch zugehörig zu späteren Lebensphasen. Über diese Momente der Anziehung sprach Reiniger zu Lebzeiten nie.
Die heimliche Auslebung ist jedoch nicht verwunderlich - in einem ihrer Briefe an eine junge Frau schreibt sie: “Die Sache ist furchtbar ernst. … Ich werde beinah verrückt, wenn ich daran denke. Weiß nicht weiter. Vegetiere. Kann nicht arbeiten. Habe Grund zu den schlimmsten Befürchtungen über meine Veranlagung. … Aussprache unmöglich. Hänge mich auf. Die ungeheure Last meines unerwiderten Zärtlichkeitsdranges erdrückt alles in mir. Du weißt, ich bin nicht schlecht. Verworfen auch nicht. Sonst ganz normal. … Die 3/4 Beichte ist mir so quälend gewesen. Behalte mich doch lieb – du, ich bin ja so traurig. Lotte."
Die queere Emanzipationsbewegung der Weimarer Republik eröffnete Freiheiten, doch in der Filmindustrie blieben die Machtverhältnisse unverändert – hinter den Kameras standen fast ausschließlich Männer. An diesen Punkt zu gelangen, war schwierig genug für eine Frau. Ihr Zitat: „Ich glaube mehr an Märchen als an Zeitungen.“ entfaltet erst im Nachlass sein gesamtes Potential.
Rike Reiniger, eine angeheiratete Verwandte der Filmemacherin, die sich mit der Biografie Reinigers beschäftigt, antwortet auf eine Interviewfrage: „Der queere Anteil in ihrem Leben bringt definitiv eine neue Perspektive auf Lotte Reinigers Kunst. Das betrifft zum Beispiel ihre wunderbar anarchischen Frauenfiguren in "Carmen" oder "Galathea", die Ambiguität in einem Scherenschnitt wie dem der "Callisto", das betrifft aber auch ihre selbstgewählte Position am Rand der Film- und Avantgardeszene und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie sich nie von einem männlichen Künstler hat vereinnahmen lassen.“
Nicht nur im Film war Lotte Reiniger dem Umfeld weit voraus. Und weil wir gegenwärtig in einer Zeit des Vergessens und Verdrängens sind, gilt es ihr den Platz in der Filmgeschichte freizustauben, den sie sich einst mit innovativen Beiträgen erkämpfte.
Quellen
Happ A. Lotte Reiniger : 1899 - 1981 : Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst. Tübingen: Kulturamt; 2004.
Oßwald D. “Muss die Geschichte der Lotte Reiniger neu geschrieben werden?” Queer.de [Internet]. 30. Juni 2024; Verfügbar unter: https://www.queer.de/detail.php?article_id=50087
Moritz W. “Some Critical Perspectives on Lotte Reiniger”. In: Animation. Art and Industry. Maureen Furniss, Herausgeber. 2009.
Reiniger R., “Berliner Trickfilm-Pionierin Lotte Reiniger: Queere Küsse im Jahr 1929”. Berliner Zeitung [Internet]. 12. Mai 2024; Verfügbar unter: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/lotte-reiniger-berliner-trickfilm-pionierin-queere-kuesse-im-jahr-1929-li.2210904
Strobel C., Lotte Reiniger Erfinderin des Silhouettenfilms. München: Kinderkino München e.V.; 2013.
Im Gespräch mit Lotte Reiniger [Internet]. 1981. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=MYb0P3KWJdk