Tiefgründiger Nonsens

Ein absurdes Meisterwerk an der Staatsoper und der Krieg zwischen dem konservativen Wiener Publikum und der mäßig progressiven Direktion: ein paar Gedanken zu Fin de Partie von Kurtág/Beckett.

Das beinlose Mülleimerpärchen /// Michael Pöhn, Wiener Staatsoper ©

„Ich dachte, du wirst mich verlassen.“

„Ich verlasse dich.“

„Kannst du mich davor kratzen?“

Ich sage immer schon: In diesen absurden Zeiten brauchen wir mehr Gaga. Surreale Kunst, lustigen und zugleich tiefgründigen Nonsens. Den gibt es jetzt an der Staatsoper, of all places. Bitte was? Ja, in der altehrwürdigen Wiener Staatsoper wird gerade ein absurdes Meisterwerk gespielt. Sehen und gesehen werden war da gestern (na gut, heute auch noch), mit Kurtágs Fin de Partie geht es im Operntempel jetzt um das Ende der Welt, was man dabei anhat, ist da eigentlich egal. Untergang ist Untergang, ob im Frack oder mit Sneakers.

Blind in den Untergang

Den oben angeführten Dialog führen zwei gelbe, beinlose Gestalten, die jeweils in einer Mülltonne am Rande des abstrakt gehaltenen Bühnenraums leben. Rechts daneben sitzt der blinde Hamm (der Sohn des gelben Mülleimerpärchens) in einem Rollstuhl, er kann nicht mehr aufstehen. Die drei werden vom Diener Clov versorgt, der wiederum nicht sitzen kann und nervös raus und reinrennt. Wohin raus? Das wird nicht ganz klar, aus andeutungen verstehen wir aber, dass da draußen die Welt schon fast ganz untergegangen ist. Apokalypse oder so. Steht Hamm für die herrschende Klasse, die uns blind in den Untergang führt? Und sind wir der nervöse Clov, der ihn weiterhin bedient? Könnte schon sein, ein gutes Kunstwerk lässt viele Interpretationen zu.

Der ungarische Komponist György Kurtág hat bis zu seinen 90ern gebraucht, um seine erste Oper zu schreiben. Die hat es aber in sich. Sie basiert auf Samuel Becketts Drama Endspiel, das der irre Ire in den 50ern, mitten im gerade heißer werdenden Kalten Krieg schrieb, als Atombombentests, Stellvertreterkriege, ständige Angst vor dem dritten und allerletzten Weltkrieg an der Tagesordnung waren. Das Timing der Premiere ist perfekt, der nahe Osten brennt, Europa und die Welt werden im Konflikt zwischen China, Russland und den USA aufgerieben, die Butter kostet knapp 3€ und da war auch noch was mit irgendeiner Klimakrise. Wir können also die Lage der vier absurden Gestalten in ihrem Unterschlupf ganz gut verstehen, auch wenn unsere Welt auf den ersten Blick noch nicht ganz so verloren ist wie ihre.

Eine große Show

Regisseur Herbert Fritsch setzt auf verrenkte, absurde Gesten und Mimik, die sowohl Kurtágs Musik als auch die abgefahrene Situation prima ergänzen. Er ist auch für das Bühnenbild zuständig, es ist ein abstrakt-einfacher, perspektivisch verzogener, heller Raum, dessen Wände er meisterhaft mit Licht und Schatten bespielt. Das Ganze schmeckt sehr nach 1920er Jahren, Bauhaus, Berlin, klassische Moderne. Die vier Akteur*innen sind echte Schauspieler*innen, Fritsch ließ sie, wie er das immer tut, frei spielen und das hat sich gelohnt, sie bieten eine große Show. Sogar das Orchester spielt mit, sowas gibt es an der Staatsoper selten.

Clov, Hamm und die Schatten /// Sofia Vargaiová, Wiener Staatsoper ©

Györyg Ligeti ist schon lange tot, Péter Eötvös ist vor kurzem gestorben, Kurtág ist der letzte große ungarische Komponist einer Ausnahmegeneration. Jetzt ist er 98, schreibt aber angeblich noch fleißig an seiner zweiten Oper. Wenn wir ganz ehrlich sind, ist es natürlich anstrengend, sich auf knapp zwei Stunden, schräge, schrille neue Musik einzulassen. Aber es lohnt sich, versprochen.

Publikum vs Intendanz

Die Staatsoper ist gerade on a roll. Ich habe eigentlich eine Kritik zur ersten Premiere der Saison versprochen. Regisseur Kirill Serebrennikov wurde für seinen Don Carlo (wenige Tage nach dem Tod seines Vaters) heftigst ausgebuht, ich fand seine Inszenierung aber gewagt und in weiten Teilen auch gelungen. Die nächste Premiere wird im Jänner die Zauberflöte sein, alles andere als ein weiterer Buhsturm mindestens der Kategorie 5 wäre bei einer Neuinterpretation so eines Klassikers eine fette Überraschung. Den weiteren Verlauf des Krieges zwischen dem konservativen Wiener Publikum und der mäßig progressiven Staatsoper erwarte ich jedenfalls so neugierig, wie die Premieren von Tschaikowskis Iolantha, die Doppelnorma (Norma wird gleichzeitig auch am Theater an der Wien neu inszeniert) oder vom Tannhäuser.

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