Triumph sinnlicher Wahrhaftigkeit
Nackte Menschen mit tiefgreifender Wirkung: Barrie Koskys Kát’a Kabanová mit der beeindruckenden Corinne Winters in der Hauptrolle bei den Salzburger Festspielen.
Jenes böhmische (?) Arom, erzeugt aus Zugriff und Zärtlichkeit, das Franz Kafka von seiner Stadt Prag als von einer „Mutter mit Krallen“ sprechen ließ, mischen am besten auch jene an, die sich den Opern Leoš Janáčeks zuwenden. Sehr erfolgreich ist dies nun bei den Salzburger Festspielen zu sehen: Voll Zuwendung, die den Schmerz nicht scheute, ging ein Ensemble merklich eines Sinnes ans Werk, mit dem Ziel, Kát’a Kabanová, das erste jener späten seelischen Schmerzensgemälde, die Janáček im letzten Jahrzehnt schrieb, als Elementarereignis zu beleben.
Die Wahl des Spielorts fiel dabei wenig überraschend – und doch überraschend angesichts des Stücks – auf die Felsenreitschule, wo in den letzten Jahren Romeo Castellucci, Achim Freyer, Peter Sellars, Krzysztof Warlikowski und Jan Lauwers biblische, mythische und polemische Großwerke von Mozart bis Nono auftrugen, und als Regisseur war diesmal Barrie Kosky zugange, den man eher mit dramatischer Verdichtung verbindet und nach wie vor mehr bei heiteren Werken in seinem Element vermutet, der nun aber nachhaltig vorzeigte, wie er eine Tragödie alles Zeitbedingten entkleiden und sich selbst (fast) jeder Mätzchen – dass ein Sänger einmal wie ein Hund hechelnd über die Bühne muss, mag als Grenzfall oder Ausnahme gelten – enthalten kann, um nackte Menschen mit tiefgreifender Wirkung vor den Zuschauer treten zu lassen.
Vor allem Protagonistin Corinne Winters folgt diesem Konzept, das maßgeblich durch ihr Charisma funktioniert, beinah bedingungslos, was auch schon den einzigen echten Einwand gegen die Aufführung enthält: Indem Kát’a, die über der Langweile des Lebens untreu Werdende und Verzweifelnde, während der hundert Minuten fast durchgehend auf der Bühne ist, wird sie unweigerlich zur Fallstudie – ihr Charakter, der nicht im Mindesten klinisch ist, pathologisiert sich, wenn wir ihr von Beginn bis Ende dabei zusehen, wie sie sich, nicht selten stumm und bei berückender Körperbeherrschung noch in schnellen, federnden Dreh- und Tanzschritten, vor uns entleibt. Das ist einerseits zu viel des seelischen Extrems, weil es von Beginn an (schon zum Vorspiel) dominiert und die mit nichts als menschlichen Puppen und Statisten in Alltagskostümen (Bühne: Rufus Didwiszus; Kostüme: Victoria Behr; Licht: Franck Evin) beräumte Bühne mangels anderer Anhaltspunkte ganz auf das innere Drama fokussiert, damit auch kaum die Deutung einer zeitlichen Vorblende (wie etwa in Jean-Pierre Ponnelles Rigoletto-Film) zulässt, andererseits auch zu gekonnt, fast elegant ausgeführt, als dass sich die seelische Nacktheit und Verzweiflung dieser Kát’a, die da gefühlsprall vor uns ringt und rollt, mit voller Erschütterung auf das Publikum übertrüge.
Corinne Winters auf höchstem Niveau
Doch Winters, die einen jugendlich leuchtenden lyrisch-dramatischen Sopran besitzt, kommt dem in ihrer gestisch-mimischen Entäußerung dennoch magisch nahe. Scharf sticht ihre Welt aus Traum und Leidenschaft von der umgebenden Gesellschaft ab, deren Enge Kosky wirkungsvoll dadurch anzeigt, dass die Charaktere sich vorwiegend geometrisch orientiert, in Kanten und Parallelen durch den Raum bewegen: ein aber nicht streng (wie etwa bei Wilson) durchgeführtes Stilmittel, das die Wirkung authentisch dramatischer Situationen also niemals hemmt oder ins Künstliche überformt. Kosky versteht außerdem sein Theaterhandwerk, weshalb es ihm nie passieren oder genügen würde, dass eine Figur blässlich unterbelichtet neben anderen vegetierte.
David Butt Philip ist Winters als ihr Geliebter Boris mit seinem reizvoll herben, eher gedeckten Tenor ein zumindest stimmlich recht adäquater Partner, Jaroslav Březina als Ehemann Tichon ebenfalls stimmstark, während Benjamin Hulett (als Freund Váňa) das vokale Spektrum des Abends um leicht und klangschön fließende Tenorkultur bereichert. Evelyn Herlitzius leiht der hartherzigen Schwiegermutter „Kabanicha“ ihr markant gereiftes Organ, dessen Stimmsitz inzwischen allerdings recht weit hinten liegt, sodass die konsonantenreiche Deklamation wenig idiomatisch klingt. Ebenso wenig nach Tschechisch und überdies eher schwach klang Jens Larsen (Dikój), während Jarmila Balážová Kát’as Schwägerin Varvara charaktervoll sang. Die restlichen Sänger*innen (Michael Mofidian als Kuligin, Nicole Chirka als Gláša und Ann-Kathrin Niemczyk als Fekluša) sowie der Wiener Staatsopernchor (unter der Leitung von Huw Rhys James) machten ihre Sache gut. Freilich verblasste szenisch (und nicht nur) fast alles vor der Stichflamme, die Winters auf die Titelfigur bündelte.
Jakub Hrůša könnte eine große Zukunft beim Orchester haben
Festspieldebütant Jakub Hrůša zeigte seine Janáček-Kompetenz mit andächtiger, beinah scheuer (und sehr sänger*innenfreundlicher) Zärtlichkeit vor: hinreißend die Cello-Intimität, die gedämpfte Melodie nach der Generalpause in der Liebesszene des Schlussaktes, deren schmerzlich schöne Abschiedsstimmung Janáček fast gänzlich und mit überlegener Herrschaft über die sinnlichen Mittel seiner Kunst dem Orchester anvertraut, überhaupt die flächige Melancholie, die deutlichen Harfenschläge; und nirgends schien er nach dem schnellen Effekt zu suchen. Präzision und Sprengkraft mancher erregter Stellen werden sicher noch wachsen, aber was man hörte, lässt auf Großes zwischen Dirigent und Orchester hoffen sowie auf gute Anlagen dazu schließen.