Bohema Magazin Wien

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Viennale-Logbuch ‘24

Satzfetzen aus der vorletzten Reihe: regelmäßig aktualisierte Textchen zu Filmischem, Unfilmischem und was es sonst noch gibt auf der Viennale 2024.

Photo: Sasha Matveeva /// Design: Alexandra Timofeeva

26.10.

„This film should be experienced as a satanic ritual,“ sagt der Regisseur Scott Cummings in der Einführung zu seinem Film Realm of Satan. Für ihn gibt es drei Dimensionen, wie man einen Film betrachten kann. Zunächst verkörpert der Film die Fantasien des Regisseurs, dann bringen die Schauspieler*innen ihre Fantasien mit aufs Set und schließlich projizieren die Zuschauer*innen ihre Fantasien auf den Bildschirm.

Nun folgt eine Beschreibung des Films wie er subjektiv von mir erlebt wurde. Nämlich genau als das, ein Ritual. Church of Satan. Ein Mitglied, bemalt sich sein Gesicht weiß, dann schwarz um Augen- und Mundpartie, während im Hintergrund jemand Geschirr aus dem Geschirrspüler holt. Derselbe hängt Wäsche auf, Star Wars Handtücher. Ein anderer wärmt sein Essen in der Mikrowelle auf. Eine in Schwarz gekleidete Frau gießt den Gemüsegarten. Ein weiteres Mitglied wäscht das Auto. Die Sonne scheint. Wrumm, Wrumm, weil mit einem protzigen Sportwagen durch die Gegend gefahren wird. Ein Besen wird gebunden und ein Dolch geschmiedet. Dazwischen Tanzen, Magie, Rot, sehr viel Rot, Musik, Masken, schwarze Krähen, Gebete, Lucifer, Mephistopheles, Beelzebub, ganz viel ‚Heil Satan‘, Siegel des Baphomet, Flammen, Nebel, Rauch, Ziegen, Symbole, Fetisch, Black Metal, Kerzenschein, Materialismus und Meditation.

Wir alle benutzen gewisse Rituale im Alltag um, wie Cummings es ausdrücken würde, zu überleben. Viele Rituale sind eine Form von Damm, der uns hilft, die Fluten von Eindrücken und Unsicherheiten der unberechenbaren Welt, der wir oft machtlos ausgeliefert sind, unter Kontrolle zu bringen. Wie der deutsche Philosoph Heidegger sagen würden: Wir sind ungefragt in die Welt geworfen worden. Diese Rituale sind ein Teil unseres Verhaltens, den wir nicht bewusst wahrnehmen, da sie nicht das Label „Ritual“ tragen. Ritualistisch kann vieles sein, das Schauen eines Films, das monatliche Kaffeekränzchen mit unseren Freunden, wo es heißt, spill the tea und tell me the gossip, das Kaufen einer Tageszeitung, der morgendliche Spaziergang, die Kleiderwahl, der Einkauf und das Staubsaugen. Wichtig zu verstehen ist, dass die Anhängerschaft der Church of Satan in Besitz eines bestimmten Weltbildes ist. Der Fokus liegt auf dem Ego, somit, wie Cummings betont, ist der Satanismus nach LaVey eine ichbezogene Religion mit dem Leitgedanken, dass das Individuum seine Realität gestaltet und seine eigene Umwelt kreiert. Wie fest eine Person hinter den Glaubenssätzen steht, ist ganz individuell und reicht von völliger Hingabe bis hin zu ‚ich bin zwar Mitglied und habe einmal mit euch interagiert, doch jetzt bye-bye‘. Obwohl zu erwähnen ist, dass es nicht ganz so einfach ist, Mitglied zu werden und der Vorgang kommt mit einer Menge an Bürokratie, Schreiberei und Grundlinien.

Die Anfangsszene bleibt besonders in Erinnerungen. Das Publikum erlebt die Geburt einer Ziege. Dazu ein paar Hintergrundinformationen aus der nachträglichen Diskussion mit Scott Cummings und seinem Kinematographen Gerald Kerkletz. Die Filmcrew hat insgesamt sechs Tage in einer Scheune verbracht. Ihnen wurde von einem Bauer gesagt, dass die Ziege in einer Ecke, ich zitiere Cummings, the thing tun wird und dass sie deswegen von Ecke zu Ecke laufen müssen. Manchmal haben sie geglaubt, dass es jetzt passieren wird, doch das war nur ein falscher Alarm, denn die Ziege ist nur aufgestanden, um zu fressen oder zu pinkeln. Sie haben zehn Stunden Filmmaterial von diesen ‚falschen Alarmen‘. Zehn Stunden. Laut Kerkletz hatten sie am Ende die Ziege schon so trainiert, dass sie wusste, wo die Kameras sind, und welche Position sie einnehmen muss. Das nennt man wohl filmische Konditionierung par excellence.

mj

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25.10.

Ein G7- Gipfeltreffen der anderen aber dennoch üblichen Art findet im Film Rumours von Guy Maddin und seinen Co-Regisseuren Evan und Galen Johnson eine Ekstase der Überladung, worin sich die Stärken des Films erkennen lassen. Maddins Neigung, den Stil und die visuelle Ästhetik alter Stumm- und früher Tonfilme nachzuempfinden, ist auch in diesem Lichtspiel zu beobachten. Das kreative Team Evan und Galen Johnson haben bereits in vorherigen Filmen erfolgreich mit dem Regisseur zusammengearbeitet.

Schnitt. Die Staatsoberhäupter von USA, Frankreich, Italien, Kanada, Japan, Vereinigtes Königreich und Deutschland - als gastgebendes Land - stellen sich auf bzw. vor, bekennen Flagge und führen ein, wie in ein Videospiel. Der Anlass ihres Zusammenkommens ist eine nicht näher spezialisierte fiktive globalen Krise. Von Krise, Krise, Krise… ohne Inhalt redend, verläuft es sich häufig in eine sprachliche Monotonie - Politik eben.

Wie in einer Sitcom wird zwischen den Charakteren, die einmal mehr oder weniger eine Parodie darstellen, in einer persönlichen Überzogenheit hin und her geschwenkt - sich gegenseitig umsorgend, während hinterrücks gelästert wird. Immer wieder vor und zurückfallend in die Stereotype der jeweiligen Staaten, könnte das von ihnen gemeinsam Erarbeitete als ein weißes Blatt visualisiert werden. Als nach einer gewissen Zeit erreicht wurde, das Datum in der Ecke des Dokumentes zu notieren, kippt das helle verschönte Spiel unter dem kronleuchterbehangenen Pavillon in Dunkelheiten und bedrohliche Verschwörungen. Die mächtigsten Personen der Welt transformieren sich zu Ausgesetzten, zu Zurückgelassenen. Diejenigen, die üblicherweise über Länder und ihre Krisen in Distanzen entscheiden, befinden sich in diesem Film unmittelbar selbst in einer. Horror-Elemente werden eingewebt und mit Pointen versehen. Wie die Figuren sich im Wald verrennen, so tut das auch der Film nach einem starken Auftakt im zweiten Teil. Was allerdings als etwas „albern“ abstempelt werden könnte, kann durchaus als gelungen bezeichnet werden. Wie bereits von Maddin bekannt, zeichnet sich dieser Film ebenfalls durch den markanten Einsatz von Klischees und die Fokussierung auf psychologisch-sexuelle Konfliktsituationen aus.

Eingetaucht wird in einen obszönen politischen Mikrokosmos, alles im Setting der Groteske. Definiert als „schwarze Komödie“ findet das Komische eben in dieser Absurdität seinen Ursprung. Schnell wird deutlich, dass der Film eine Realität ablichtet, die mit einer Zuspitzung im Dramatischen bloßgestellt wird. Ja - worüber wird da eigentlich gelacht ?

Inkompetenz der Politik, Sexismus, Rassismus. Eindringen in ein Gebiet, das ursprünglich einem anderen Volk gehörte - den Moorleichen nämlich, die bereits seit der Eisenzeit dort verwurzelt sind. Die Symbolträchtigkeit dick aufgetragen, wird sie sogar im Film selbst thematisiert. Rumours versteckt sich nicht in interpretativen Verschachtelungen, sondern bildet ab und die Musik sagt, was zu fühlen ist.

mp

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Wir schreiben das Jahr 2024 und immer noch leben wir mit den Nachwirkungen der Covid- Pandemie. Im still gelegten Wien füllen wir die Einsamkeit mit der Entdeckung unserer Identität. Währenddessen verschwimmen die Grenzen des Digitalen mit unserem Alltag. So treiben die Protagonistinnen in bluish von Lilith Kraxner und Milena Czernovsky verloren durch die Kunstszene der Stadt, in der Hoffnung, Land zu finden und zwischenmenschlich anzukommen. Theater und Musik schaffen hier einen kurzen Moment der Flucht oder bieten die einzige Möglichkeit in unseren Tiefen zu fischen und verstanden zu werden. Das intime Verlangen unser Selbst wahrzunehmen wird gestillt durch die Tropfen auf unserer Haut – sei es in der Dusche, im Hallenbad oder der Donau. Im Wasser sind wir eins mit unserer Umgebung, geborgen und berührt. Ohne ein narratives Ziel dürfen wir (melancholische) fragile Gefühlswelten in purer Stille entdecken. Diese Wirkungen werden formal ästhetisch durch das rechteckige Bildformat mit seinem verschlossenen Charakter, der statischen langen Kameraeinstellungen, welche auf jegliche Exploration verzichten, und dem sensiblen Umgang mit 60mm Film verstärkt.

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23.10.

Beim Erlernen einer neuen Sprache durchwandert man viele Schichten. Zunächst lernt man einzelne Wörter, meistens Begrüßungen und Beleidigungen, später kämpft man mit Grammatik und Vokabellisten, lernt Essen und Trinken zu bestellen und irgendwann in einer unabsehbaren Zukunft traut man sich die eigenen sicheren, vier Wände seines Zuhauses zu verlassen, wo ja eh niemand hört wie man ein Wort schon zum dritten Mal versucht auszusprechen und nun laut fluchend am Schreibtisch sitzt. Man betritt die Straßen und lernt dabei, dass Missverständnisse ein wichtiger Teil dieser Reise sind.

Der Spielfilm Dormir de olhos abertos der Regisseurin Nele Wohlatz spielt genau mit dieser Dimension des Hopplas und des Uppsalas, die zu einer humorvollen Atmosphäre beitragen. Nach einem anstrengenden Tag sitzt die Protagonistin Kia, eine taiwanesische Touristin im weißen Kleid, ohne Handy (das ist ihr am Flughafen ins Klo gefallen) in einer Strandbar und hofft, etwas zu essen zu kriegen. Alles spielt sich in der brasilianischen Küstenstadt Recife ab. Sie fragt einen neben ihr sitzenden Mann, einen Übersetzer, warum sie denn alle anstarren. Er empfiehlt ihr, buntere Kleidung zu tragen. Sie fragt nach einem traditionellen Gericht. Er bestellt ihr Caipirinha, ein Getränk. Die Konversation endet damit, dass sie ihn fragt, ob er denn die Menschen versteht, deren Sprache er übersetzt. Sie gesteht, dass sie das Gefühl hat, die Leute verstehen sich nicht mal in ihrer Muttersprache.

Wie erfahren wir das Fremde? Als die Protagonistin in der Hoffnung eine Zange zu finden, um die kaputte Klimaanlage in ihrem Hotelzimmer zu ‚reparieren‘, in einem Regenschirmladen eine Box voller Postkarten erhält, beginnt ein weiterer Handlungsstrang: Die Welt der chinesischen Arbeiter, die nach Lateinamerika migriert sind, um sich dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es sind chinesische Arbeiter, die am Bildschirm auftauchen und im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwinden. Die Realität: Armut, Kampf, Raubüberfalle, Sprachbarrieren und die Suche nach Möglichkeiten. Der Film hat es übrigens nicht am chinesischen Zensor vorbeigeschafft, da die Darstellung der in Armut lebenden Arbeiter ‚nicht sein kann und sein darf‘.

Viele Szenen ereignen sich in einem Hochhaus, welches mit der Zeit zu einem Mikrokosmos für die Gruppe geworden ist. Unter ihnen ist Xia Xin, die Verfasserin der Postkarten. Kia und Xia Xin sind durch die Postkarten, die gleichzeitig verfasst und gelesen werden, miteinander verbunden. Mit dem Regenschirmverkäufer Fu Ang wird eine melancholische Ebene angesprochen. Verändert sich der Körpergeruch, wenn man in eine neue Stadt zieht? Erkennt man seinen Heimatort wieder, wenn man nach Jahren dorthin zurückkehrt oder verändert sich alles so sehr, dass man nicht mal mehr zurückfindet? In einer bestimmten Szene, in der die Arbeiter am Pool des Hochhauses sitzen, Bier trinkend und das Wetter genießend, Karnevalgeräusche im Hintergrund, da fällt eine Wassermelone aus einem Fenster und kollidiert mit dem Terassenboden. Die Regisseurin erklärt später in einem Gespräch, dass die Melone ein Symbol der Gewalt ist. Sie steht für ein echtes Ereignis: Die Wassermelone ist eigentlich ein Baby. Das lasse ich mal so stehen.

Wie man immer wieder feststellt, spricht ein Film seine eigene Sprache und manchmal muss man zwischen den Zeilen lesen, um diese zu verstehen. Hinter dem einen steckt oft das andere.

mj

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Auf dem Papier klingt der Film Emilia Pérez so absurd, als ob er nicht funktionieren sollte: Ein Drogenkartellboss der sein Leben hinter sich lassen möchte indem er zur Frau wird, unterstützt von einer Anwältin und das ganze als Musical. Dennoch funktioniert die Mischung erstaunlich gut!

Die Songs gehen nicht nur ins Ohr, sondern behandlen auch noch gesellschaftskritische Themen, wie Gewalt gegen Frauen oder Korruption. Das Genre Musical wurde von Seiten der Produktion ausnahmslos verstanden, was sich auf Ebene der Inszenierung, insbesondere penibel choreografierter Massenszenen und dem Sounddesign bemerkbar macht.

So namhaft die Besetzung (und die schauspielerische Leistung derer) durch Zoe Saldaña und Selena Gomez auch ist, den emotionalen Kern bildet Karla Sofia Gascón als Emilia Pérez. Als Transfrau bringt sie persönliche Erfahrungen in die Rolle mit und stattet diese, trotz moralischer Fragwürdigkeit, mit genügend Herz und Schmerz aus, dass sie unser Mitgefühl und Mitfiebern verdient. Die kriminelle Vergangenheit wird nach der Transition jedoch nicht einfach unter den Teppich gekehrt und vergessen, sie prägt die Handlung des gesamten Films, das Schicksal aller Charaktere.

Über 132 Minuten wird eine Drogenkartell-Maria Story verqueert und als humorvolles Musical präsentiert, inklusive actionreichem Showdown. Für Genrefans durchaus eine Empfehlung!

jr

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Das ‚Hong-Verse‘ erfreut sich in den letzten Jahren an kontinuierlichem Zuwachs. In den letzten vier Jahren konnte man jedes Jahr zwei Spielfilme des koreanischen Regisseurs auf der Leinwand sehen. Die hohe Quantität scheint der Qualität seiner Filme jedoch nicht zu abträglich zu sein. Während seine letzten Filme abstrakter in ihrer Form und ihrem Plot waren, ist By the Stream mit einer Laufzeit von 111min nicht nur deutlich länger als seine vorherigen Filme, sondern in der Themensetzung auch dichter und komplexer. Nichtsdestotrotz können sich ‚Hong-Heads‘ an seinem klassischen Formalismus erfreuen; unzählige Konversationen bei denen Leute lediglich am Tisch sitzen, Ramyun oder Aal essen und Wein, Bier, Soju und/oder Makgeolli trinken. Andere Stilelemente wie seine illusionsbrechenden Zooms oder die dauernde Unschärfe wie in In Water findet man jedoch nur selten.

Der Fokus des Films liegt in den Dialogen, die in klassischer Hong-Manier eine Ambivalenz vermitteln, zu der sich nicht nur die Charaktere, sondern auch das Publikum positionieren muss. Die Sprache spricht in seinen Filmen über sich hinaus; Dialoge oszillieren bei ihm zwischen Trivialitäten und intimen Offenbarungen, zwischen passiver Aggression und offenkundiger Wut. Dabei erfährt das Publikum nur Versatzstücke über die Vergangenheit und auch Gefühlszustände der Figuren. Die Psychologisierung lässt sich nur erahnen, da die eröffneten Leerstellen lediglich mit Fragmenten befüllt werden. Ein für den Plot vermeintlich signifikantes Gespräch zwischen Lehrerinnen an einer Kunstuniversität und dem dortigen Direktor wird nie gezeigt. Der Film zeigt den Gang hin zur Universität - in einer der schönsten Einstellungen des Films, bei der Hong-Veteranin Kim Min-hee Herbstlaub aufhebt und durch die goldenen Strahlen der Herbstsonnen tanzt, zu dem dann ein extradiegetischer Soundtrack, übersteuert und amateurhaft, einsetzt – und wie die beiden Lehrerinnen gemeinsam schweigend die Universität wieder verlassen, mehr jedoch auch nicht.

Die zweite Hauptfigur des Films, gespielt vom anderen Hong-Veteranen Kwon Hae-hyo, ist die bekannte Hong-Figur des alternden Künstlers, dessen Karriere den Zenit schon überschritten hat oder sogar gänzlich vorbei ist. Diese Figur dient Hong als Reflexionsmöglichkeit, da er in ihr auch seine eigenen Erfahrungen verarbeiten kann. Auch wenn der sprichwörtliche Autor nach Roland Barthes tot ist, bleibt Hongs Kino ein sehr persönliches. Privaterlebnisse werden über die Figur von Kwon Hae-hyo, der einen ehemals erfolgreichen Schauspieler verkörpert, gefiltert und auf die Leinwand transportiert. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein stures Festhalten an den alten Tagen. Der Film ist kein nostalgisch verklärter Blick auf eine vergangene, scheinbar bessere Zeit. Kwons Figur blickt reflektiert zurück und bereut; eine Eigenschaft, die man sich von vielen alternden Prominenten auch wünschen würde. Darüber hinaus wird die Erfahrung als Künstler, der Umgang mit Kritik und dem Unverständnis, welches einem Werk entgegengebracht wird, verarbeitet.

Alkohol spielt als Katalysator eine prominente Rolle. In der berührendsten Szene des Films sitzen die vier Studentinnen, die mit der Hilfe Kwons einen Sketch für das Theaterfestival an der Universität aufgeführt haben und dessen Rezeption nicht nur positiv war, mit ihm am Tisch, der übersät ist mit leeren Bier- und Sojuflaschen und sollen in poetischer Form die Frage „What kind of person do you want to be?“ beantworten. Der Zoom auf die einzelnen Studentinnen wird hier zum Safespace und Berührungen zum Ausdruck der Solidarität. Die Antworten „A person who loves truly“ und „I’ll light the smallest lamp in the corner and protect it until I die” wären unter einem anderen Regisseur, in einem anderen Film, unausstehlich kitschig und pathosbeladen, doch in By the Stream entwickelt die Szene eine zärtliche Sentimentalität. Die sicherlich auch durch den Alkohol entfachten, aber deshalb nicht weniger wahrhaftigen, seelischen Offenbarungen der Studentinnen verweisen auf den in jedem Hong-Film mitschwingenden Existenzialismus.

Einem mäandernden Bach ähnlich ziehen sich die Leben der Figuren durch den Plot des Films. Immer wieder wird durch dieses Dahinplätschern hindurch emotionales Sediment freigelegt, welches zu Gefühlsausbrüchen führt. By the Stream ist ein klassischer Hong Sang-soo Film, bei dem alles gleich ist - bis auf die Dinge, die sich verändert haben.

pe

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21.10.

Man sollte meinen, dass mit dem ersten Satz des Films „I need to poo“, eigentlich die Grundstimmung bzw. der Ton gesetzt sein sollte.  Ghost Cat Anzu verläuft auch in den ersten zwei Dritteln wie ein weniger kontemplativer Studio-Ghibli-Film. Der Animationsstil erinnert dabei an die Zeichnungen aus alten Kinderbüchern. Die warmen, weichen Farben, die wie in Aquarellmalereien kein deckendes, verdichtendes Gefühl vermitteln, sondern das Licht und die Stimmung vergangener Sommertage evozieren, steht im beinahe irritierenden Gegensatz zur Darstellung der Protagonistin. Karins Aussehen erinnert mehr an den Zeichenstil eines/r Jugendlichen, die/der gerade Mangas und Animes für sich entdeckt hat und die ersten vorsichtigen Eigenproduktionen entwirft. Die riesigen Augen, deren Leuchten durch zwei weiße Flecken dargestellt werden, die lila Haare und ihre gesamte Mimik schreien geradezu die Wörter ‚Tsundere‘ und ‚Kawaii‘ heraus.

Diese Gegensätzlichkeit in der Animation spiegelt auch das unausgeglichene Storytelling des Films wider. Während der Anfang Studio-Ghibli-esque Dichotomien aneinanderreiht: Stadt-Land, Eltern-Kind, Natur-Kultur; alles vermischt mit einer Prise Shinto-buddhistischem Synkretismus, nimmt das letzte Drittel des Films nicht nur an narrativer Dichte zu, sondern behandelt auch komplexe Themen, wie Schuldenfallen, soziale Armut und Tod. Gleichzeitig bleibt der Knotenpunkt eine unsterbliche, spielsüchtige, verfressene, die menschliche Sprache beherrschende Geisterkatze, die immer wieder mal zur Belustigung des Publikums herumfurzt. Die Absurdität, aus der Tatsache entstehend, dass die menschengroße, auf zwei Beinen stehende Geisterkatze in der Gesellschaft kein Aufsehen erregt, sondern einfach akzeptiert wird, trägt viel zum skurrilen Humor bei. Der oft die rigide Bürokratisierung Japans zum Ziel hat: Anzu darf nicht Moped fahren, weil er keinen Führerschein gemacht hat und das Reich der Toten erinnert mehr an ein klassisch geführtes Unternehmen mit Mitarbeitern, die halt zufällig menschenquälende Dämonen sind.

Es ist sicherlich ein riskantes Unterfangen, diese tonalen Unterschiede in einen Film packen zu wollen. Das Risiko, dass Fallhöhen durch die Leichtigkeit der Witze und umgekehrt der Humor durch die Komplexität der Themen abgeschwächt werden, kann Ghost Cat Anzu nicht völlig umgehen. In seinen besten Moment jedoch versprüht der Film eine Melancholie der letzten Sommertage wie die besten Studio-Ghibli-Filme.

pe

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20.10.

Manchmal wird eine Publikumsreaktion während des Abspanns zu einem einprägsameren Moment als die eigentliche Filmvorführung. Die Tatsache, dassvereinzelte Besucher*innen heute ihre Kufiya tragend erschienen waren, deutete darauf hin, dass sie Vorführung zumindest im weiterem Sinne mit der derzeitigen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht werden konnte. Aber welche Zutaten braucht es, damit ein dreiteiliges Kurzfilmscreening im Rahmen eines Filmfestivals schlagartig von politischer Spannung eingenommen wird?

Mit Heritages eröffnete die diesjährige Viennale die Kurzfilmprogramme. Es begann mit The Diary of a Sky aus dem Libanon. Hier dokumentierte der Künstler Lawrence Abu Hamdan in einem tagebuchartigen Filmessay die Militarisierung des Himmels über Beirut, während der Pandemie. Im Vordergrund der Inszenierung steht der Geräuschpegel von israelischen Luftfahrzeugen, welche illegal in den libanesischen Luftraum eindringen. Während über vierzig Minuten sind Drohnen und Kampfjets - teils bedrohlich aus der Ferne, teils sehr nah und vereinnahmend - zu hören. Zu sehen ist der blaue Himmel. Auch wenn die weit entfernten fliegenden Fremdkörper meistens unsichtbar blieben, manifestierte sich das bedrückende Gefühl von Machtlosigkeit auch hier im Kinosaal. Als nach dem 44-minütigen filmischen Tagebuchauszug endlich der Abspann einsetze und im Publikum der Applaus und ein spürbares Aufatmen einsetzte, machte sich zwei Plätze weiter eine Person mit lauten Buhrufen bemerkbar. Es folgte ein wütender Ausruf: „Antisemitisches Machtwerk! – SCHRECKLICH!“ Die Stimmung war schlagartig angespannter als sie es während des gesamten Films gewesen war – und was jetzt?

So wie es bei einem Kurzfilmprogramm aber üblich ist, folgte nahtlos der nächste Film: Slow Shift von Shambhavi Kaul. Das Eintauchen in die archäologische Landschaft von Vijayanagara, eine von Languren belebte Idylle aus runden Steinformationen, hatte eine unerwartet beruhigende Wirkung. Keine Menschenseele weit und breit. Hier regierte offensichtlich das Tierreich. Das war irgendwie heilsam. Große Steine bewegten sich, scheinbar ohne äußere Krafteinwirkung, und die langen Schwänze der Langurenschwangen zur Musik. Es hatte etwas von einem mystischen, posthumanen Szenario und gleichzeitig erinnerte es mich an die berühmte ‚Dawn of Man‘ Anfangssequenz ausKubricks 2001: A Space Odyssey.

Für Kamal Aljafaris UNDR, eine filmische Collage von historischen Luftaufnahmen aus Palästina, hatte ich Viennale-FOMO-bedingt leider dann keine Zeit mehr. Ich hatte schon Tickets für The End im Gartenbaukino und 10 Minuten Zeit um von einem Kino ins nächste zu laufen. Im Nachhinein hätte mich die Stimmung bei der geplanten Fragerunde mit dem palästinensischen Regisseur Aljafari, der heute im Filmmuseum anwesend war, aber durchaus interessiert.

ssi

19.10.

Jemand hat mir mal gesagt, wenn man sich gegen die dicken Mauern eines antiken Gebäudes lehnt, dann spürt man den Atem der Zeit. Jemand hat mir mal gesagt, dass jede futuristische Stadt aus kreisförmigen, weißen Gebilden bestehen sollte.

In seinem Dokumentarfilm Architecton zertrümmert Viktor Kossakovsky die betonierten, vorgefassten Perspektiven seiner Zuschauer und ersetzt sie mit einer Reihe von tiefgreifenden Fragen: Bauen wir uns in die Destruktion? Was bedeutet es nachhaltig zu bauen? Was ist Schönheit? Was kann uns die Vergangenheit über unsere heutige Architektur verraten? Schon zum Einstieg werden wir mit Bildern konfrontiert, die direkt aus einer albtraumhaften,postapokalyptischen Welt stammen könnten. In Vogelperspektive fliegen wir über zertrümmerte, heruntergekommene Gebäude, vorbei an gelben Baggern, die mit ihren Schaufeln gegen halbe Hauswände schlagen, an Trümmerhaufen, aus dessen Mitte sporadisch zerrissene Kleidungstücke und Stoffteile herausschauen, an in zwei Teile getrennten Wohnungen, aus denen schmutzige Sofas und alte Küchengeräte schauen, an kurzlebigen, durch Natur und Mensch zerstörten Wohnhäusern.

Parallel dazu wird der Kinobesucher von Architekt Michele De Lucchi auf eine Reise in dieVergangenheit mitgenommen. Antike Säulen, große Steinklötze und Statuen, die ihre Architekten um Jahrhunderte überdauern. Während De Lucchi einen Steinkreis in seinem Garten errichten lässt, wird das Publikum von Steinmeeren überschüttet. Steine, Steine und Steine! In diesem kinematographischen Meisterwerk wandert man vom Steinkosmos auf den Steinberg, findet sich schließlich am Steinboden und steckt zwischen zwei aneinanderreibenden Steinen. Die Steine werden zu Beton. Heute wird eine hohe Anzahl an Gebäuden aus Beton gebaut. Die Menge an Beton auf unserem Planten gleicht der Menge an Wasser, informiert eine weiße Aufschrift am Bildschirm. Es ist der meistgenutzte Baustoff.Wir betonieren unseren Lebensraum. Im Epilog fragt der Regisseur den Architekten: Warum bauen wir so hässlich, wenn wir doch vor Jahrhunderten so schöne Konstrukte zu errichten wussten? Der Architekt wirkt traurig. Es ist eine persönliche Frage für ihn. Sein aktuelles Projekt in Mailand ist es einen Betonkasten zu bauen. Der Kasten hat keinen symbolischen Wert, er wird 30 bis 40 Jahre halten, erklärt der Architekt mit hängendem Kopf. Die wachsende Population, das sich verändernde Klima und unsere architektonische Vergangenheit zwingen uns einen Blick auf unsere jetzige Bauweise zu werfen. Wenn Architektur das Verhalten der Menschen beeinflusst, was sagen dann unsere Bauwerke über uns aus?

Der Film regt zum Nachdenken an. Nachdenken während Steine, Gebäude und Natur in unfassbarem Detail und aus einer beeindruckenden Nähe gezeigt werden. Die Musik des Komponisten Evgueni Galperine schafft einen perfekten Raum für Reflexion. Was ist das Fazit? Die Zukunft ist ein mit Grass gefüllter Steinkreis, den Generation nach Generation erhalten und pflegen muss.

mj

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19.10.

Sasquatch Sunset von Nathan und David Zellner ist eine Erfahrung auf die man sich einlassen können muss. Ganz ohne gesprochene Worte, aber mit brilliantem Maskenbild, zeigt er den Alltag einer Bigfoot Familie, über die Dauer eines Jahres. Teils sehr absurde Szenen (durchaus humorvoll, aber auch übermäßiger Fäkalhumor) reihen sich an idyllische Aufnahmen des Familienlebens und Begegnungen anderer Waldbewohner*innen. Menschliches Auftreten ist nicht vorhanden und dennoch lassen sich mit der Zeit ihre Spuren erkennen die sehr wohl Einfluss auf die Geschehnisse haben. Auch die behandelten Themen des Spielfilms sind grundlegend menschlich: Toxische Männlichkeit, Sex und Konsens, Geburt und Tod, Überleben wollen und Nahrungssuche. Der wohl stärkste Faktor des Films ist jedoch das Zeigen der Natur und ihrer (Zer)Störung durch uns Menschen, aus der Sicht der Bigfoots und somit der Tiere des Waldes. Eine Sicht die wir durch diesen Film ebenso einnehmen dürfen und animiert werden in unseren Alltag mitzunehmen.

jr

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17.10.

Screenshot, willhaben.at, 17.10.2024

Das wichtigste bei der Viennale sind für die echten Cineasten - neben den Filmen - natürlich die Taschen mit dem VIENNALE-Schriftzug - wenn sich in ein paar Monaten das Gro der gesehenen Bilder zu einem wirren Gedächtnisknoten verheddert hat, bleibt doch immer noch diese Tasche, die signalisiert: ich war dabei.

Viele Möglichkeiten zu solch einer optischen, physischen Zurschaustellung des eigenen Kenner- und Eingeweihtentums hat man als Filmbegeisterter sonst nicht - seit dem Aufkommen von Letterboxd kann man sich zwar über besonders hohe Das-habe-ich-schon-gesehen-Zahlen profilieren, die Sitznachbarin in der Straßenbahn bekommt davon wenig mit. Kleidungsstücke sind zwar eine Option, hier aber läuft man Gefahr, allzu schnell in eine etwas schmuddelige Ecke gesteckt zu werden (Superman-T-Shirts sind zu nerdig, MUBI-Pullovern hängt gleichzeitig etwas prätentiöses und marktkonformes an, außerdem sind sie aus der Ferne leicht mit EU-Hoodies zu verwechseln).

Dank der Viennale-Tasche, insbesondere durch das Mitführen älterer Modelle, lassen sich hingegen leicht anerkennende Blicke ernten; wenn man etwa an einem Dienstagnachmittag mit dem 2006er-Modell ins Café kommt, weiß jede*r: der kennt sich aus, der war dabei, auf den hören wir lieber.

Die neue Tasche nun unterscheidet sich maßgeblich, also wirklich maßgeblich von der des letzten Jahres, die eigentlich gar keine richtige Tasche war, sondern bloß ein Rucksack. Jetzt gibt es wieder eine echte Tasche, eine zum umhängen, die aus immerhin neun recycleten Plastikflaschen hergestellt wurde. Sonderlich aufregend sieht die zwar auch nicht aus (das gleiche Dunkelblau wie letztes Jahr, dazu sind merkwürdige Riemen installiert, die aber nichts an-riemen, sondern nur herumbaumeln), dafür ist der Viennale-Schriftzug nun weiß, was besonders gut zu erkennen ist - auch aus einer leichten Distanz, sodass auch ein träge hinterherbummelnder Fußgänger gleich erkennt: da geht ein Filmfan.

as

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16.10.

Eröffnende Bilder und Töne - von Radu Jude, Nicoleta Tudorache und Johann Strauss.

Radu Jude dazu: "Dieses Instrument wird normalerweise mit der Roma-Minderheit in Verbindung gebracht und ich freue mich sehr zu zeigen, wie Johann Strauss darauf klingt. Ich habe gesehen, wie ein steifes, perfekt gekleidetes Publikum in einem Wiener Konzertsaal die klassische Orchesterversion des Stückes aufgenommen hat, und da Kino immer noch eine populäre Kunst ist, ziehe ich es vor, es von Frau Tudorache auf einem țambal spielen zu lassen. Das ist sicherlich lebendiger und lustiger."

Groß zu sehen dann ab Donnerstag Abend, wenn die Viennale Eröffnungsgala im Gartenbaukino stattfindet - aber erstmal nur für geladene, besonders wichtige Personen, sprich: vor allem eine lebendige und lustige Sache.

as