Viennale vorab: Filmtipps ins Blaue

(Teils) spekulative Filmempfehlungen zur Donnerstag startenden Viennale.

(c) Viennale / Alexander Tuma

Ein Artikel, der im Vorfeld eines Festivals Empfehlungen abgeben möchte, ist von Vornherein etwas dubios: über die Hälfte der im Folgenden erwähnten Filme habe ich noch nicht gesehen, etwas über einen ungesehenen Film zu schreiben ist nicht mehr als Spekulation, die präsentierte Auswahl stark vom eigenen Erfahrungshorizont, von den eigenen Vorlieben geprägt – da sind Filmemacher*innen, die ich schätze, Themen, die mich reizen. Andere Filme fallen dann hintüber, vielleicht stellen gerade die sich nach dem Festival als eigentliche Lieblinge heraus. Warum dennoch dieser Artikel, wenn so viel dagegenspricht? Um einige filmische Arbeiten, die auf der Viennale laufen, in den Fokus zu rücken, die vielleicht nicht jede*r auf dem Schirm hat – das Programm der Viennale ist gerade für diejenigen, die nicht regelmäßig auf Filmfestivals rennen oder Filmzeitschriften lesen, unübersichtlich. Vielleicht hilft da ein Textchen einer Person, die diese zwei Dinge gern tut und in einigen Schlagpunkten dem Gro unserer Leser*innen ähnelt: in den Zwanzigern, studierend, kulturinteressiert. Viennale-Tickets sind nicht günstig und schnell weg, da geht es nur so: im Vorfeld, teils ungesehen, ein wenig ins Blaue.


Essential Truths of the Lake (R: Lav Diaz)

26.10. (10:00), 28.10. (20:30)

Der philippinische Regisseur Lav Diaz ist eine Ausnahmeerscheinung im Weltkino. Nicht selten reichen seine Filme an die Länge einer Vollzeit-Tagesschicht, doch sollte man sich weder von solch exorbitanten Laufzeiten abschrecken lassen, noch Diaz auf diese Besonderheit reduzieren. Essential Truths of the Lake stellt eine Art Fortsetzung zum letztjährig auf der Viennale gelaufenen When The Waves Are Gone dar – gleiche Hauptfigur, den ersten Bildern nach zu urteilen eine ähnlich poetisch-existenzielle Noir-Stimmung, in der Diaz im Vorgängerfilm die Verrohung der Anti-Drogen-Kampagne Rodrigo Dutertes filmisch lesbar machte. Zäh oder langatmig war daran nichts.

Last Things (R: Deborah Stratman)

Mit LABERINT SEQUENCES, 26.10. (18:30), 27.10. (21:00)

Apropos lesbar machen: Inspiriert von Denker*innen wie Donna Haraway justiert Last Things von Deborah Stratman die Achsen des Erzählens und Einfühlens neu. Stratman fabuliert abseits vom Anthropozentrismus, öffnet und verflüssigt Zeiten, Ordnungen und Perspektiven. „Viel Unruhe, viel Verwandtschaft, um weiterzumachen.“ (Haraway)

La Chimera (R: Alice Rohrwacher)

29.10. (18:00), 30.10. (20:15)

Weg von einer Idee der menschlichen Vormachtstellung will offensichtlich auch Alice Rohrwacher - so schreibt zumindest Patrick Holzapfel in der NZZ, bei ihr gebe es “keine Hierarchie zwischen den Lebewesen, der Mensch wird als Teil grösserer Systeme verstanden, die er zerstört.” In Bezug auf Rohrwachers fantastischen letzten Langfilm Glücklich wie Lazzaro lässt sich diese Aussage sogar noch erweitern, verwebt dieser doch zusätzlich Märchen- und Wunderhaftes mit sozialrealistischem. Wie diesen verfrachtet Rohrwacher auch ihren neuen Film ins rurale Italien, wieder scheint das Reale dehnbar.

Qingchun (Chun) (R: Wang Bing)

20.10. (11:00), 30.10. (20:30)

Was “made in China” heißen kann, zeigt Quingchun. Fünf Jahre hat Dokumentarfilmer Wang Bing sich in Textilfabriken im chinesischen Zhili herumgetrieben, herausgekommen sind dreieinhalb Stunden Lebensrealität der vornehmlich jungen, migrantischen Arbeiter*innen – ich erwarte einen Blick hinters Label, auf die Fabrik als Ort der Arbeit, der Zusammenkunft, des Mit-, vielleicht auch Gegeneinanders.


Allensworth (R: James Benning)

23.10. (18:30), 27.10. (13:00)

James Benning, Einsiedler: bei der diesjährigen Sight & Sound-’Abstimmung’ für die besten Filme aller Zeiten gab der amerikanische Regisseur an, er würde eigentlich keine Filme schauen - und wählte ausschließlich seine eigenen, mehr kenne er schließlich nicht. Das Bild vom Medium Film, das sich durch ausschließliches James-Benning-Schauen zeichnete, wäre ein Besonderes, so bewegen dessen Filme sich auf der Schwelle zur Fotografie. Lange, unbewegte Einstellungen, die den Blick öffnen für die noch so kleinste Bewegung - und das Ohr sensibilisieren! In Allensworth widmet sich Benning nun dem gleichnamigen Ort, 1908 als erste afro-amerikanisch geführte Gemeinde gegründet. Nicht nur ein besonderer Entwurf von Film, auch eine besondere Perspektive auf die USA.

L’ Ete Dernier (R: Catherine Breillat)

24.10. (18:45), 25.10. (21:00)

Die Filme Catherine Breillats stellen sich der Konfrontation mit dem Unangenehmen, mit Gedanken und Bildern, die viele vielleicht lieber nicht hören, nicht sehen würden - angefeindet wird Breillat dafür von rechts, von links, von Feministinnen wie Antifeministinnen. Dabei steht im Zentrum ihres Schaffens so gut wie immer das weibliche Begehren - stets ambivalent, oft von Scham geprägt. Filme wie Romance oder Fat Girl provozieren sicherlich, sie tun das aber eben nicht der Provokation willen, sondern praktizieren (meiner Ansicht nach) dialektischen Feminismus in der Sprache der Bilder - Film und Traum werden hier zusammengedacht, sowieso: Psychoanalyse! In L’Ete Dernier nun auf dem thematischen Minenfeld des Inzest…
Breillat ist am 25. Oktober übrigens auch als Gesprächsteilnehmerin zu sehen/hören (18.30, Viennale Zentrale, Eintritt frei).

La Bête (R: Bertrand Bonello)

24.10. (21:00), 25.10. (14:30)

Bonellos neuer Film adaptiert lose Henry James’ Novelle The Beast in the Jungle, welche momentan auch in Patric Chihas Version in den österreichischen Kinos zu sehen ist. Während dessen Film in einem Pariser Club die Zeit stillstehen ließ, verlagert Bonello sein Biest in die Jahre 1910, 2014 und 2044, Paris und Los Angeles. Was das wird, bleibt unklar - “Lost Highway im KI-Zeitalter” titelt Christoph Petersen, sich überschlagende Kritiker*innen-Stimmen und ein Blick auf Bonellos frühere Arbeiten (etwa das letztjährige Viennale-Essay-Experiment Coma), welche ihn als findigen Monteur verschiedener medialer Ebenen hervorheben, lassen jedoch auf Großes hoffen.

A Valparaíso (R: Joris Ivens)

Mit MORIR UN POCO, 22.10. (18:30)

Valparaíso, Tal des Paradieses. Als Polyfonie der Hafenstadt ließe sich Joris Ivens Dokumentarfilm aus dem Jahre 1962 beschreiben - mehrstimmig in jeder Hinsicht. Gegenwart und (glorreichere) Vergangenheit prallen hier aufeinander, arm und reich, nicht zuletzt Schönheit und sozialer Misstand. Auch formal ist A Valparaíso eher Kaleidoskop als vollendeter Körper, Ivens beobachtende Bilder prallen auf Chris Markers Kommentar, mal poetisch, mal anklagend, immer vieldeutig. Weder auf der Leinwand noch im Kopf der Zuschauer*innen entsteht ein einheitliches Bild, vielmehr eine undichte Collage.


Zu vollem Programm und Tickets geht es hier.

Filmstills: (c) Viennale

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