Wiens Fenster in die Welt

Wie liefen die Festwochen bis jetzt? Ein Zwischenfazit über fünf Produktionen, inklusive Lulu, Sun & Sea und Marina Davydovas Museum of Uncounted Voices.

Sun & Sea

Wiens Fenster in die Welt, das wollen die Festwochen sein. Also internationale Produktionen zeigen, Sachen, für die man sonst nach Paris, New York oder zur Biennale in Venedig fahren muss. Genau dort gewann 2019 die litauische Indoor-Beach-Oper Sun & Sea, die jetzt im Semperdepot gezeigt wurde. Schon das Setup war eine kleine Sensation, man stand am Geländer in diesem so großartigen Raum und schaute runter auf einen echten Sandstrand mit lauten echten Menschen. Sie lagen da, lasen, aßen, spielten – und sie sangen vor allem, ca. eine Stunde lang. Wer die Texte mitlas, wurde mit einem ironischen aber nie boshaften Blick auf unsere verrückte Gesellschaft belohnt.

Wer sich das Mitlesen sparte, langweilte sich vielleicht, bei mir kamen allein beim Zuschauen starke Urlaubserinnerungen hoch und ein abstraktes Gefühl für dieses komische Zwitterdasein zwischen Urlaub und Arbeit, in dem wir, die wohlhabenden Westler*innen so leben. Ein Sympathischer Auftakt, nicht bahnbrechend, aber definitiv gelungen.

Museum meets Theater /// Nurith Wagner Strauss (c)

Museum of Uncounted Voices

Weiter ging es mit einer leichten Enttäuschung. Die russische Theatermacherin Marina Davydova wurde unlängst mit viel Tamtam zur neuen Schauspielchefin der Salzburger Festspiele ernannt, von ihrer neuen Produktion Museum of Uncounted Voices erwartete ich mir ziemlich viel. Es ging um die Geschichte Russlands und einiger Nachbarstaaten (Ukraine, Armenien, Weißrussland, Georgien, Aserbaidschan), eine einzige Schauspielerin führte durch einen fast leeren Raum, der mit Animationen und Aufnahmen zu einem tatsächlichen Museum über Kolonialismus, Ursprungsthesen und gegenseitige Kränkungen erweckt wurde.

Das Thema ist wichtig, spannend und aktuell, zum Nachdenken wurde man immerhin tatsächlich angeregt (also definitiv keine Zeitverschwendung). Nett war auch, dass wir als Publikum auch mehrmals auf die Bühne durften, um das Museum zu studieren. Das Ganze schmeckte aber leider leicht nach einem Besuch eines wannabe kreativ gestalteten Geschichtszentrums. Besonders der letzte Teil, als die Schauspielerin die eigene Geschichte Davydovas vortrug, versanken wir in einer Pathos-Suppe, von der man nach wenigen Löffeln genug hatte.

Eine krasse Performance im Jugendstiltheater der Klinik Penzing /// Nurith Wagner Strauss (c)

Canti di Prigonia

Für die nächste Produktion mussten wir bis hoch auf die Steinhofgründe fahren. Das war an sich schon ein großes Plus von Canti di Prigonia, all die Bobos aus dem Zentrum mal an den Stadtrand zu treiben, dann noch an einen so besonderen Ort, wie die Otto Wagners Penzinger Klinik mit dem Jugendstiltheater mittendrin. Wäre schön, wenn die Festwochen noch mehr solche besonderen Orte bespielen und die Stadt so noch stärker durchdringen würden.

Die kroatische Performance von Matija Ferlin zu Musik des Avantgardekomponisten Luigi Dallapiccola war dann eine ziemlich kryptische Angelegenheit, ein Chor sang und spielte kaum verständliche, aber doch auch bewegende Szenen. Muss man denn alles immer verstehen? Sie hätten von mir aus ruhig etwas mehr singen können, die Zwölftonmusik war ein Highlight der Produktion. Klingt snobby? You gotta believe me, live war die Musik weder schräg noch schmerzhaft, sondern einfach nur stark.

Lulu

Alban Bergs Oper Lulu ist ebenfalls ganz in Zwölftontechnik gehalten. Vereinfacht heißt das, dass beim Komponieren alle zwölf Halbtöne immer nacheinander in einer jeweils strikt festgelegten Reihe drankommen, so wurde ab den 1920 die klassische Dur-Moll-Welt vermieden. Dass sowas trotzdem stark berühren kann, haben sowohl Dallapiccola als auch Berg eindrücklich gezeigt. Das RSO unter Maxime Pascal, einem der vielversprechendsten Dirigent*innen unserer Zeit, sowie das Sänger*innenriege um die großartige Vera-Lotte Boecker waren die Stars dieser Flaggschiffproduktion. Flaggschiff schon auch deswegen, weil Lulu gleichzeitig auch der Abschluss einer aufregenden Saison des MusikTheaters an der Wien war, das hier als Koproduzent auftrat.

Szenisch bekam die Inszenierung ziemlich viel Hate in der Presse, eine Choreografin wie Marlene Monteiro Freitas wäre schon mal überhaupt nicht geeignet, eine Oper zu inszenieren. Freitas ergänzte die handelnden Sänger*innen mit einer Gruppe von sehr ausdrucksstarken Tänzer*innen, die mit zeitgenössischem Tanz das Geschehen ergänzten, teils auch darin eingriffen. Die Hauptfiguren spielten wiederum meist schematisch, mit minimalen Mitteln, was die Wirkung der dichten Story aus meiner Sicht aber nur verstärkte, das Fabelhafte daran ins Licht rückte. Die Geschichte darüber, was die krude patriarchale Gesellschaft mit Lulu macht, ist leider immer noch aktuell, zusammen mit der überwältigenden Musik und der gewagten Regie macht sie dieses Stück zu einem Must See. Für den 6. Juni gibt es noch Tickets https://www.festwochen.at/lulu, für Studis an der Abendkassa für 20€.

Singing Youth

Zum Schluss schaute ich mir noch die ungarische Produktion Singing Youth an. Sechs weißgekleidete Sänger*innen sangen sich durch acht Jahrzehnte an Propagandaliedern, neu zusammengesetzt und komponiert von Máté Szigeti. Dabei zeigten sie die erschreckend starken Parallelen zwischen der Sportmanie und dem (Kultur-)Totalitarismus der sozialistischen Diktatur und dem heutigen Orbán-System. Hat mir keinen Spaß gemacht. Nicht, weil schlecht gesungen wurde, im Gegenteil, auch das Konzept war schlüssig. Schmerzhaft war die bittere Erkenntnis über meine alte Heimat. Der Bogen zu Davydovas postsowjetischem Rückblicktheater schloss sich insofern, dass man wieder einmal daran erinnert wurde, wie tief in den Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks der Wurm sitzt, wie oberflächlich die scheinbare Demokratisierung der letzten Jahrzehnte war.

Leider verpasst habe ich Milo Raus Antigone im Amazonas, dieses politische Theaterstück soll ein großer Erfolg gewesen sein. Ab der nächsten Saison darf er dann unser Wiener Weltfenster öffnen, drastisch neu erfinden muss er die Festwochen meiner Ansicht nach aber nicht. Meine Erfahrungen mit der Ära Christophe Slagmuylder waren grundsätzlich positiv.

Bis zum 21. Juni läuft die letzte Slagmuylder-Edition noch, ein Besuch lohnt sich.

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