Nosferatu: der lange Schatten des Vampir-Mythos
Nosferatu (2024) ist eine Abhandlung der Vampirfigur als kulturelles Produkt und eine Enthüllung der immer noch nachhallenden Wirkung des fin-de-siècle Gothic in den Horrorgelüsten der Gegenwart.
Die lang ersehnte Neuadaption von F.W. Murnau’s Nosferatu – eine Symphonie des Grauens (1922), durch Robert Eggers, einem aktuellen Liebling des Arthouse Horros, spukt gerade weltweit durch die Kinosäle. Dieses visuell exquisite Remake ist mehr als eine Hommage, wobei die Liebe für das Original in jedem Detail zu spüren ist, wie z.B. in dem beeindruckenden expressionistischen Spiel mit Licht und Schatten. Nosferatu (1922) ist ein Klassiker des Deutschen Expressionismus und war die erste Filmadaption von Bram Stokers Dracula (1897), wenn auch die Geschichte gerade genug verändert wurde, um ohne die entsprechenden Filmrechte auszukommen. Auch in Eggers’ Remake wird der frisch vermählte Thomas Hutter (Nicholas Hoult) von dem dubiosen Immobilienhändler Herr Knock (Simon McBurney) nach Transsilvanien geschickt, um dem mysteriösen Grafen Orlok (Bill Skarsgård) eine Ruine in der fiktiven deutschen Stadt Wisborg zu verkaufen – die Stadt, in der Hutter mit seiner jungen Ehefrau Ellen (Lily-Rose Depp) lebt. Im abgelegenen Schloss des Grafen wird der junge Mann, nach einer schauerhaften Reise durch das „wilde“ Rumänien, festgehalten. Letzteres steht hier, wie in Stokers Roman, für den „unzivilisierten“ Osten, für das Fremde und für abergläubige Kulturen, was in Eggers Film (etwas xenophil) stark betont wird. Als es Thomas Hutter schließlich gelingt, den wortwörtlichen Klauen des Monsters zu entkommen, ist der Fiebertraum noch lange nicht vorbei: Graf Orlok folgt dem jungen Mann nach Wisborg, wo Ellen, die seit ihrer Kindheit an orgasmisch anmutenden epileptischen Anfällen und Somnambulismus leidet, schon lange aus der Entfernung von der dunklen Macht des Vampirs verführt (oder besessen?) wird. Der Schweizer Arzt und Forscher des Okkulten Prof. Albin Eberhart von Franz (Willem Dafoe) ist anfangs der Einzige, der ihr Glauben schenkt und ihr Verhalten nicht als Hysterie abtut. Durch den Umgang der anderen Figuren mit Ellens schwer zu diagnostizierenden Anfällen und gruseligen Szenen in einer Nervenheilanstalt, wird das Thema des sogenannten wissenschaftlichen Fortschritts, der Entstehung der Psychiatrie und den damit verbundenen Ängsten aufgemacht. Dies ist ein Kernthema des Gothic und Eggers Nosferatu verschreibt sich voll und ganz der Stimmung und Geisteswelt des fin-de-siècle Gothic.
Ein Gothic Schauermärchen
Auch wenn der Vampir zeitlos ist, so lebt er doch als Figur des europäischen und US-amerikanischen Gothic in unserem kollektiven Bewusstsein. Gothic könnte man vielleicht als eine bestimmte, pluralistische, aus diversen politischen und historischen Umständen entspringende „sensibility“ (möglicherweise zu übersetzen als „Empfindsamkeit“) bezeichnen, die sich seit dem 18. Jahrhundert in Literatur, bildender Kunst und Film ausdrückt. Gothic geht Hand in Hand mit der europäischen Aufklärung und der dadurch bedingten „Entzauberung“ der Welt. Gothic ist eine Zuwendung an die Vergangenheit und ein Interesse an Märchen und Folklore, es ist der Schatten der Moderne und in dem Sinne durchaus reaktionär. Die Ängste des Gothics entspringen zu einem großen Teil aus den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und technologischen Entwicklungen (man denke an den “ghost in the machine“). Aber auch der langsam ins Schwanken geratende europäische Kolonialismus, die beginnende Globalisierung und die damit einhergehende Angst vor und Faszination mit dem Fremden fließen mit ein, sowie die aufwändig konstruierten und kontrollierten binären Geschlechterkategorien und die daraus entspringende sexuelle Repression des 19. Jahrhunderts. Aus einer progressiven Perspektive betrachtet handelt sich bei der Gothic sensibility jedoch auch um Ängste, die in einem Zweifel wurzeln: Ein Zweifel an der in der Aufklärung prävalent gewordenen, in ihrem Universalismus und in ihrem Versprechen der menschlichen Überlegenheit trügerischen, engen Definition des Menschlichen.
Monster Theory
Laut Donna Haraway haben Monster in westlichen Imaginationen schon immer die Grenzen der Zivilisation bevölkert. Der Vampir ist eine Personifizierung von Liminalität: Er ist weder tot noch lebendig, lebt in der Dunkelheit, im Schatten, nicht ganz sichtbar, in unserer Mitte aber auch weit entfernt. Tatsächlich bewegt sich der literarische und filmische Vampir oft (je nach Zeit und Zweck seiner Entstehung) zwischen seinem abgelegenen Schloss in der Fremde (ein als durchaus xenophob zu verstehender Tropus) und seinem Haus in westlichen Metropolen hin und her.
Viele der bis heute nachhallenden Kategorien, in die wir die Welt einordnen (die Trennung von Natur und Kultur, Mensch und Tier, männlich und weiblich und natürlich Rassentheorien), entstammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Entscheidend für das Verständnis des Vampirs ist die Ambiguität, die er verkörpert und die gleich mehrere solcher Grenzen zwischen menschengemachten Kategorien verwischt: Sexualität und Geschlecht, das Vertraute und das Fremde, tot und lebendig, Mensch und verrottende Materialität.
Der Vampir seit dem 19. Jahrhundert
Die Geschichte des Vampirs hat keinen Anfang und kein Ende. Ein jeder Versuch, eine lineare Chronologie des Phänomens „Vampir“ niederzuschreiben, widerspricht dessen Natur. Thomas M. Stuart beschreibt den Vampir als „transtemporal“ und gleichzeitig als untrennbar verbunden mit der Zeit seiner jeweiligen Artikulation. Während der Vampir in der Folklore unterschiedlichster Kulturen seit Jahrhunderten als Verkörperung von Grauen und Schrecken meist unmenschliche Formen annahm, erscheint er seit dem 19. Jahrhundert als durchaus gruseliger aber immer menschlicherer Verführer. Dies geschieht zu einem großen Teil dank der Novelle The Vampyre von John Polidori – welcher (angeblich aus Rache) eine Vampirfigur erschuf, die starke Ähnlichkeiten mit dem englischen Autor (und Polidoris Arbeitgeber sowie angeblichem Liebhaber) Lord Byron aufwies. Auch wenn der Vampir schon im 19. Jahrundert bis zu einem gewissen Grad als exzentrischer Aristokrat mit Stil, Charme und einem betörend-beängstigend schönen Äußeren beeindruckte, so ist diese Faszination stets begleitet von Monstrosität, Angst und Ekel.
Im 20. Jahrhundert lebt die Vampirfigur in ihren literarischen und filmischen Manifestationen immer mehr „unter uns“ und ist viel besser darin geworden, ihre Monstrosität zu verstecken. Mit Anne Rices Kult-Vampiren Louis und Lestat in Interview with the Vampire gewinnt der Mainstream-Vampir gegen Ende des 20. Jahrhunderts gar humanistische Qualitäten, wie einen freien Willen, Vernunft und einen moralischen Kompass. Er ist in der Lage, sich (wenn auch mit großer Mühe und Not) gegen seine zerstörerischen Triebe zu wehren, wie Louis, der sich von Ratten ernährt um keine Menschen zu töten. Selbst die Verfilmung von Bram Stokers Dracula (1992), unter der Regie von Francis Ford Coppola, verleiht dem Grafen eine traurige Vorgeschichte, die die tragische Diskrepanz zwischen seiner Menschlichkeit und seiner Monstrosität betont und seine Handlungen bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar macht.
Im 21. Jahrhundert schließlich ist der Vampir gänzlich menschlich geworden, bloß geplagt von einem schlechten Gewissen, weil er bestimmte dunkle Impulse nicht immer kontrollieren kann. Das versucht er aber, so gut es geht – er gewinnt unsere Sympathie. Er ist ein Mensch der das Monströse in sich zu bezwingen sucht. Der Twilight-Vampir des 21. Jahrhunderts, dessen Charakter auf seine Zeitgenoss*innen ausstrahlt, wird Opfer eines „civilizing impulse“, wie ihn Karen Backstein nennt. Davon entfernt sich Eggers dezidiert – er macht den Vampir wieder zur Bedrohung für die Zivilisation.
Infektion und Krankheit
In Nosferatu bringt Orlok die Pest nach Wisborg – um dies zu symbolisieren holte Eggers rund 2000 echte Ratten ans Set. Nach der Ankunft des Grafen sterben die Bewohner der fiktiven deutschen Stadt wie die Fliegen. Dabei weisen sie Symptome der Pest auf, sowie unverwechselbare Bißspuren über dem Herzen. Die Nähe der Vampirfigur zu menschlichen Ängsten vor Krankheit und Tod geht weit zurück: Insbesondere die Tuberkulose-Epidemien des 17. Und 18. Jahrhunderts führten zu unzähligen Vampirlegenden und der tatsächlichen Exhumierung von Leichen, die zu Vampiren erklärt wurden, weil ihre Haare und Nägel im Grab gewachsen zu sein schienen, frisches Blut an ihrem Gesicht entdeckt wurde, oder ihre Bäuche aufgebläht waren (allesamt mit dem natürlichen Zerfall des toten Körpers begründbare Phänomene). So erklärte man sich mysteriös zusammenhängende Todesfälle innerhalb von Familien und Gemeinschaften – man stellte sich vor, die Toten kehrten in der Nacht zurück (wie es viele Fieberträume der Betroffenen beschrieben), um sich ihre Liebsten mit ins Grab zu holen. Diese Geschichten und Legenden wurden von Eggers ebenfalls aufgegriffen - in einer schaurigen Szene in der Thomas Hutter auf dem Weg zum Schloss des Grafen beobachtet, wie in einem nächtlichen Ritual auf einem Friedhof eine Leiche gepfählt wird.
Essenziell für eine Gothic sensibility ist das zu der Zeit neu gewonnene Verständnis der Welt in ihrer Materialität und die Angst, die diese Weltsicht mit sich bringt: der Mensch ist seiner Materialität ausgeliefert, in der Krankheit und im unvermeidbaren Tod wird dies deutlich. Gothic sind die Ängste des Materialismus eines sich seiner selbst bewussten Körpers, eine Zelebration der Schönheit und des Horrors, in dem eigenen alternden, sich verwandelnden, schmerzenden und begehrenden Fleisch zu leben. Der Vampir als monströse Grenzüberschreitung zwischen einem lebenden Wesen und einem toten (verwesenden) Körper ist eine Inkarnation dieser Angst.
Furcht und Verführung
Eggers legt Wert darauf, mit seinem Nosferatu den Kino-Vampir wieder zum Monster zu machen, nachdem er zuletzt durch Fantasy Romanzen à la Twilight (2008) doch eher zu einem handzahmen Teenage-Heartthrob geworden war. Eggers bleibt dabei der populär gewordenen Darstellung des Blutsaugens als erotischem Akt treu und greift explizit die Jahrhunderte überdauernde Darstellung des Vampirs als unterdrückte sexuelle Gelüste auf. Gleichzeitig bedient er sich aber dem Bild des Folklore-Vampirs, der noch keine (zuvor beschriebene) Vermenschlichung unterging. Der im Laufe des Films nach und nach entblößte Graf ist ein verrottender Körper, gehüllt in die gammlige Aufmachung eines mittelalterlichen rumänischen Adeligen. Die aufwendigen Kostüme und die Ausstattung, sowie Set und Licht Design (beeindruckend: der Film scheint größtenteils auf Green Screens und CGI zu verzichten) rekreieren auf bezaubernde Art und Weise die Ästhetik eines Gothic Schauermärchens. Jedoch geschieht dies in einer Zeit, in der die Vampirfigur schon lange zum Sexsymbol geworden ist. Es liegt dem zeitgenössischen Publikum nahe, die Geschichte von Ellen Hutter als eine Geschichte der Verführung zu lesen, eine Geschichte darüber, wie sie ihren dunkelsten Impulsen nachgibt. Die transgressive Qualität dieser Handlung wird durch die abstoßende Monstrosität des Grafen aber wieder deutlicher, nachdem sie z.B. in Twilight komplett verwaschen wurde.
Der Freud‘sche Todestrieb wird im Begehren nach dem Vampir manifest. Die vampirische Sexualität, die nicht auf Fortpflanzung aus ist und eine Subkategorie des Kannibalismus darstellt, die oral performt wird und gleichzeitig die Grenze der Haut penetriert, das Gegenüber konsumiert und tötet, überschreitet wortwörtlich, sowie auf einer metaphorischen Ebene, Grenzen. Die transgressive Sexualität des Vampirs geht Hand in Hand mit der Bedrohung von Landesgrenzen, die er darstellt (Graf Orlok aus der Fremde immigriert nach Wisborg) oder der zuvor beschriebenen tödlichen Grenzüberschreitung von Bakterien und anderen Krankheitserregern (das Pestschiff, mit dem der Graf einreist).
Was dabei durchaus problematisiert werden kann, sind die Aufnahmen einer stöhnenden, sich auf gruselige, aber auch laszive Art räkelnde Lily-Rose Depp im Nachthemd, die stark an Laura Mulveys Theorie des „male gaze“ im Kino erinnern und an das aus feministischer Perspektive zu kritisierende Narrativ der ewig leidenden Frau. Außerdem kommt auch hier, wie so oft bei Vampirgeschichten, das Problem des uralten (naja, bereits toten) Mannes und der seiner jungen Geliebten auf. Aber – ceci n’est pas une histoire d’amour! Die Verortung des als weiblich kategorisierten Körpers im Reich des Monströsen hat patriarchale Tradition. Der sich verwandelnde, blutende, gebärende Körper war besonders im 19. Jahrhundert Objekt der Angst und der Faszination. Das sexuelle Begehren, das von nicht-cis-männlichen Körpern ausgeht, wurde besonders systematisch pathologisiert. Dracula (1897) und Nosferatu (1922), sowie ein großer Teil der darauffolgenden Vampirliteratur und Filme, illustrieren die destruktive Kraft von Sexualität, die freigesetzt wird, wenn (fast immer) die Frau von diesen dunklen Gelüsten übermannt wird. Dieser Film beginnt jedoch mit Ellens geflüsterter Einladung „come to me“, eine bedeutende Veränderung des Ausgangsmaterials. Sowohl in Stokers Dracula (1897) als auch in Nosferatu (1922) verfügt die weibliche Protagonistin nicht über diese Handlungsmacht. Aus einer feministischen Perspektive kann Ellens Entscheidung, das Monster zu sich zu rufen also auch als selbstermächtigender Akt gelesen werden: die – in einer patriarchalen Welt nicht einfache, durchaus quälende – Entscheidung zu ihrer Monstrosität zu stehen, auch wenn ihr diese zum Verhängnis wird.
Genau damit fordert Eggers das moderne Publikum heraus. Der Vampir ist eben ein Monster und kein Mensch und seine Beziehung zu Ellen ist keine romantische, sondern eine symbolische. Dabei sind die beiden Figuren nicht voneinander zu trennen, sie sind zwei Seiten einer Medaille, gleichzeitig Jäger*in und Beute. Die Fantasie des Gothic ist angetrieben von der Angst vor dem Uneindeutigen, vor Grenzüberschreitungen und der Auflösung von Binaritäten. Auch wir befinden uns in einer Zeit, in der das Publikum stets moralische Klarheit erwartet und sich zugleich nach dem schaurigen Zauber des Fantastischen sehnt. Dafür liefert Robert Eggers‘ Nosferatu eine mögliche Antwort: Habe den Mut zur moralischen Ambiguität einer Gothic sensibility!
Quellen
David Punter, On the Threshold of Gothic, A Reflection, in: Hogle, Jerrold E., Miles, Robert.; The Gothic and Theory: An Edinburgh Companion, 2019, S. 315.
Donna Harraway, A Cyborg Manifesto, in: Simians, Cyborgs, and Women, 1991, S. 180.
Thomas, M. Stuart, Out of Time: Queer Temporality and Eugenic Monstrosity, in: Victorian Studies Vol 60/2, Papers and Responses from the Fifteenth Annual Conference of the North American Victorian Studies Association (Winter 2018), pp. 218-226, S. 2019, S. 225-26.
Karen Backstein, (Un)safe Sex: Romancing the Vampire, Cineaste 38 (A Special Focus on the Contemporary Horror Film) 2009, p. 38-42, S. 38, Sp. 2.
Podcast: My Victorian Nightmare, Folge 6: The Wild World of Victorian Vampires, 35’ (https://open.spotify.com/episode/3JkuiVrDqCQ6LAmdPoTo8w?si=ab9b9305731743f2)
Laura Mulvey, Visual Pleasure and Narrative Cinema, Screen, Bd.16/3, 1975, S. 6–18.