Emilia Pérez und die Verwandtschaft zwischen Film und Oper

Ein Plädoyer für mehr Gesang im Film: Jacques Audiards Musicalthriller zeigt, dass das Kino immer noch nicht so weit von der Oper entfernt ist und dass Musicals nicht immer lustig sein müssen.

Die zwei Protagonistinnen /// Pathé Films ©

Eine Version dieses Artikels ist in der ‘Presse’ erschienen.

Preis der Jury in Cannes und nun auch die meisten Auszeichnungen bei den Golden Globes, darunter in der Kategorie Comedy/Musical: Jacques Audiard wird gerade für Emilia Pérez gefeiert. Aber Komödie? Lustig ist dieser Musicalthriller über einen mexikanischen Drogenboss (Karla Sofía Gascón), der sich umoperieren lässt und als Frau das kriminelle Leben verlässt ganz und gar nicht. Es geht um Liebe, ums Elternsein, um Eifersucht, um Mord, erzählt mit dramatischen, emotionalen Gesangseinlagen. Ein Gesamtpaket, das gespenstig an die Oper erinnert. Und daran, dass die Kunstform Film eigentlich ein enger Verwandter der Oper ist.

Von Florenz aus eroberte ab 1600 eine neue Form des Spektakels Europa und später die Welt. Zunächst wurde sie in Höfen gespielt, zu Geburtstagen und Hochzeiten der Herrscher*innen. Milo Rau schrieb zu einer seiner Operninszenierungen, die Oper sei immer eine Kunstform der herrschenden Klasse gewesen. Polemisch formuliert, aber nicht unwahr: Protz und Pracht der höfischen Spektakel waren zentral für die Repräsentation der vermeintlich gottgegebenen Herrschaft. Noch heute sitzen in Salzburg und Co. Spitzenpolitiker*innen gerne auf den teuersten (aber akustisch schlechtesten) Plätzen in der ersten Reihe.

Die Oper als das zentrale performative Spektakel der Gesellschaft

Die ersten privaten Impresarii begannen aber schon wenige Jahre nach der Geburt der Oper, die Herrschenden nachzuahmen (und gingen in den allermeisten Fällen rasch pleite, Oper ist und bleibt ein Verlustgeschäft). Diejenigen, die es sich leisten konnten, gingen in Venedig und nach und nach in ganz Europa in Opernhäuser. Diese gehörten zunächst Adeligen, mit dem Aufstieg der bürgerlichen Mittelschicht musste sich jede Stadt, die etwas auf sich gab, ein Opernhaus leisten. Der Camerata Fiorentina, dessen Mitglieder die Geburtshelfer der Oper waren, schwebte um 1600 eine Fortsetzung des antiken Dramas vor. In gewisser Hinsicht erfüllte die Gattung Oper den Traum dieses Künstlerbundes aus Florenz, indem sie zum zentralen performativen Spektakel der Gesellschaft wurde. Davon zeugen die prachtvollen Opernhäuser, die Nähe der Gattung zur Staatsmacht, sowie Massenphänomene, wie das Rossini-Fieber oder der Wagner-Wahn.

Als die Lumière-Brüder 1895 ihre ersten Filme zeigten, war die Oper noch am Zenit, flankiert vom Theater. Nachdem sich der Film vom Kuriosum zur dramatischen Kunstform entwickelte, stritten sich Oper, Sprechtheater und Kino bis in die 1930-er um die Vormachtstellung als das zentrale performative Medium. In den 20-ern gab es das letzte Mal wirklich einflussreiche, Land auf, Land runter gespielte Opern, wie Kreneks Johnny spielt auf, Bergs Wozzeck oder Korngolds Die tote Stadt. Spätestens der Tonfilm entschied den ‚Streit‘ aber eindeutig zugunsten des Bewegtbilds. Kinotickets konnte sich fast jede*r leisten, Fernsehen und (illegales) Streaming erst recht. Oper und Theater überlebten, da wir nur bei elektronischen Geräten eine Wegwerfgesellschaft sind und kulturell von der klassischen Musik bis zum Jazz alles erhalten. Der große Erfolg von Filmoperetten, wie Die Drei von der Tankstelle in den 30-ern und die goldene Zeit von Filmmusicals in der Nachkriegszeit zeugen aber davon, dass für das operngewöhnte Publikum Gesang ganz natürlich dazugehörte und dass das Kino gewissermaßen ein Nachfahre der Oper ist.

Oper vs. Film vs. Reels

Gerade muss es sich der Film gegen ein neues performatives Medium behaupten, Social-Media-Reels passen zur Aufmerksamkeitsspanne der ADHS-kranken Gesellschaft scheinbar besser als stundenlange Filme.Durch die Filmmusik ist das Kino ein Stück weit immer digitales Musiktheater geblieben, auch wenn Musicals langsam aus der Mode gekommen sind. Gerade erleben sie sogar eine Renaissance, Wicked bekam gerade auch einen Golden Globe, Wien bekommt bald eine neue Musicalbühne. Blockbuster wie Mamma mia, La La Land oder Barbie haben gezeigt, dass auch das zeitgenössische Kinopublikum nichts dagegen hat, wenn Schauspielende mitten in der Handlung in Gesang ausbrechen. Die Oper wurde während ihrer ganzen Existenz dafür kritisiert, nicht realistisch zu sein. Wer singt schon im Alltag, statt zu sprechen? Vielleicht tut sich der Film mit dem abstrakten Reflexionsmoment des Singens schwerer, da er geschickter vortäuscht, Realität zu sein. Aber auch Kino ist ein fiktives Drama, das primär Gefühle auslösen möchte. Und Emotionen kann man kaum stärker übermitteln als durch Musik.

Im alten Hollywood war es selbstverständlich, dass Schauspielende singen und tanzen konnten. Zoë Saldana bewies als virtuos rappende und singende Anwältin in Emilia Pérez, dass es manche immer noch können und gewann dafür prompt einen Golden Globe. Jacques Audiards genresprengendes Drama ist auch bei den Oscars ein heißer Kandidat, wer weiß, vielleicht überzeugt sein Erfolg auch andere Regisseur*innen auch abseits von Komödien und reinen Musicals mehr Gesang einzusetzen. Adam Drivers Gesangseinlage am Ende von Noah Baumbachs Marriage Story ist ein äußerst berührender Moment und ein perfektes Beispiel, wie gut das funktionieren kann. Dass Oper auf dem Bildschirm nicht wirklich zündet, haben uns die Pandemie-Streams gelehrt. Trotzdem sehnt sich zumindest ein Teil des Kino- und Sofapublikums nach großen Gefühlen, die singend verhandelt werden. Emilia Pérez liefert das und schlägt damit eine Brücke bis hin nach Florenz in der Spätrenaissance.

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